Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert

Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert

Titel: Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sobo
Vom Netzwerk:
mir leid«, sagte sie und strich ihm über die Wange.
    »Ich muss los. Ich brauch ’ne Karte.«
    »Ich hol sie dir«, sagte Adelheid. »Bleib hier und warte auf mich. Für mich ist es ungefährlicher.«
    »Beeil dich!«
    * * *
    Salomon wartete am Ende der Eingangshalle unweit der Züge auf Adelheid. Es dauerte nicht lange, da kam sie angerannt.Sie fiel ihm um den Hals und küsste ihn. Salomon war zuerst überrascht, bis ihm klar wurde, dass der Kuss nicht nur mit Adelheids Zuneigung zu tun hatte. Sie küsste ihn immer länger, immer heftiger, drückte sich fest an ihn und flüsterte zwischen den innigen Küssen: »Vorsicht! Nicht hochgucken!«
    Salomon hörte Schritte. Das Pochen von Stiefelabsätzen kam näher. Ich hörte in meinem Stoff beutel, den Salomon noch immer, jetzt ganz verkrampft, in der Hand hielt, auch sein Herz pochen. Oder war es Adelheids?
    Zwei Männer in Uniform blieben keine zwei Meter von den beiden entfernt stehen. Sie grinsten. Einer sagte: »Ja, ja, die Liebe!«
    Der andere ergänzte: »Muss Liebe schön sein.«
    Beide lachten spöttisch und gingen an dem küssenden Paar vorbei. Als sie außer Sicht waren, löste Adelheid sich von Salomon. Beide hatten ganz rote Münder und glänzende Bäckchen.
    »Los, komm!«, sagte sie. »Dein Zug fährt in ein paar Minuten!«
    Sie nahm ihn bei der Hand, und beide rannten zum Bahnsteig. Mir wurde im schaukelnden Beutel ganz schwindelig. Bevor Salomon mit mir in der einen und dem Geigenkoffer in der anderen Hand in den Zug stieg, küsste er Adelheid noch einmal auf die Wange. Dann fragte er: »Darf ich dich um etwas bitten?«
    »Um alles, was du willst.«
    »Sag meiner Mutter, ich bin auf dem Weg in die Sicherheit.«
    »Ich kümmere mich um sie.«
    Salomon küsste sie noch einmal, diesmal auf den Mund. Dann stiegen wir in den Zug. Salomon öffnete das Schiebefenster des Abteils und beugte sich hinaus.
    »Sehen wir uns wieder?«
    »Bestimmt, wenn das alles hier vorbei ist«, sagte Adelheid und lief neben dem anfahrenden Zug her. »Hast du deinen Talisman?«
    Salomon zog mich aus dem Beutel und schwenkte mich im offenen Fenster hin und her.
    »Passt auf euch auf!«
    »Du auch!«
    Wir sahen, wie Adelheid Tränen über die Wangen liefen. Der Zug wurde immer schneller und Adelheid immer kleiner. Dann sahen wir nur noch, wie sie winkend verschwand.

1938 – 1940, Paris und Marseille, Frankreich
    Wir waren da! Wir waren in Paris! Wir waren in Sicherheit! Vorerst.
    Während der Reise war alles schwarz um mich herum, denn ich hielt die Augen geschlossen. Ich wollte nichts mehr sehen, nichts mehr hören, bis wir dieses Land verlassen hatten, dessen »Führer« Menschen vernichten ließ, weil sie anders aussahen oder einen anderen Glauben hatten.
    Nur das Rattern der Räder auf den Schienen erinnerte mich daran, dass wir uns Meter für Meter von diesem unmenschlichen, lebensbedrohlichen Ort entfernten. Hie und da tutete es, als wollte die Dampflok uns zur Eile, aber auch zur Vorsicht anhalten.
    Salomon schaute lange Zeit aus dem Fenster, bis auch er die Augen zumachte und von einer besseren Welt träumte, während er Deutschland hinter sich ließ.
    Hier in Frankreich, in Paris, wollten wir warten, bis in unsererHeimat der Despot mit dem mickrigen Bärtchen und der bellenden Stimme endlich zu Fall gebracht wäre. Wie lange das dauern würde, wusste weder ich noch Salomon. Und wie es aussah, wusste es auch niemand sonst auf der Welt. Die Nazis selbst sprachen gerne vom »Tausendjährigen Reich«. Bei dem Gedanken, dieser Spuk könnte tausend Jahre dauern, fing der Lack auf meinem Holzleib an zu blättern.
    Unser Zug hielt im Bahnhof Gare du Nord und spuckte die Fahrgäste auf den Bahnsteig aus. Der Bahnhof war voller Menschen, die verloren und nur mit dem, was sie auf dem Leib trugen, in der riesigen Halle standen. Emigranten, Flüchtlinge und Leidensgenossen, die Deutschland den Rücken kehrten, um ihren Kopf aus der Schlinge zu ziehen – gerade noch rechtzeitig, so wie wir. Unschlüssig standen sie auf dem Bahnsteig und wussten nicht wohin, genau wie wir.
    Ab jetzt hatten wir nur noch uns. Ich hatte Salomon, und Salomon hatte mich. Als würde er in diesem Moment dasselbe denken, drückte er mich fest an sich. Wir waren weit weg von zu Hause in einem fremden Land, verstanden die Sprache nicht, hatten keine unterkunft und kaum Geld in der Tasche. Wie sollte es jetzt weitergehen?
    Noch ehe ich darüber nachdenken konnte, sagte Salomon: »Wir brauchen erst mal ein Dach

Weitere Kostenlose Bücher