Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert
Gesicht sah dabei noch lustiger aus. »Du kannst es anschreiben lassen.«
Salomon zog seine Jacke über. Er steckte mich in die Innentascheund ging mit Herrn Blumenthal in den Salon. Fast alle Tische waren besetzt.
»Sehen sie nicht aus wie Menschen, die sich vor einem Regenschauer geflüchtet haben und in einem Hauseingang kauern?«, flüsterte Herr Blumenthal Salomon zu. »Um auf schöneres Wetter zu warten?«
Er hatte recht. Nur waren es keine Menschen, die irgendwo kauerten, sondern die es sich auf Stühlen bequem gemacht hatten und sich angeregt unterhielten.
Herr Blumenthal trat an einen Tisch, an dem noch zwei Stühle frei waren. An dem Tisch saß ein junges Mädchen, ungefähr so alt wie Salomon, ein junger Mann mit Backenbart, ein älterer Mann mit schmalem Gesicht und wässrigen Augen, der ziemlich krank aussah, und schließlich eine Frau mit kurzen schwarzen Haaren und dunkler Brille.
»Das ist Salomon Morgenstern aus Berlin.«
Herr Blumenthal zeigte auf Salomon, dann auf den jungen Mann mit dem Backenbart: »Herr Andres.« Hernach zeigte er auf den Mann mit dem schmalen Gesicht und auf die Frau mit der Brille. »Dr. Zaberski und Frau Zucker.« Zuletzt griff er dem Mädchen auf die Schulter, sodass sie zusammenzuckte. »Meine Tochter Anna.«
Er setzte sich. Alle schauten Salomon an. Er wurde ein wenig verlegen, und seine Wangen röteten sich leicht. Salomon hasste es, wenn er rot wurde.
»Alles Künstler!«, sagte Blumenthal.
Die anderen lachten. Nur das Mädchen starrte auf ihren leeren Teller und reagierte nicht.
»Künstler im Verborgenen«, sagte Herr Andres. »Künstler, die sich in der Kunst des Überlebens üben.«
»Na und?«, entgegnete Frau Zucker schnippisch. »Das Wichtigste ist nun mal das Überleben.«
»Um die Welt über Hitler aufzuklären«, fügte Doktor Zaberski hinzu und hustete anschließend so heftig, dass er jetzt ganz rot wurde.
Schon waren alle am Tisch und an den Nebentischen in eine heftige Diskussion über Hitler, die Nazis, Deutschland und die Emigranten hier in Paris verstrickt. Nur das Mädchen saß noch immer stumm vor seinem Teller und starrte vor sich hin.
»Was gibt es denn zu essen?«, fragte Salomon.
Anna sah von ihrem Teller auf und schaute ihn verwundert an. »Keine Ahnung.«
»Vorsicht, heiß!« Madame Colette brachte einen dampfenden Topf in den Salon.
»Es riecht nach Erbseneintopf!«, sagte das Mädchen.
»Ah, lecker!«, rief Salomon, während das Mädchen das Gesicht verzog.
Madame Colette schöpfte den Eintopf mit einer großen Kelle in die Teller, während die Frauen und Männer weiter diskutierten. Dabei erfuhren Salomon und ich, dass in der Nacht, in der wir geflüchtet waren und die von den Nazis von nun an »Reichskristallnacht« genannt wurde, überall in Deutschland Synagogen gebrannt hatten und jüdische Geschäfte und Häuser geplündert worden waren. Dabei hatten die Nazis viele Juden ermordet. Wir erfuhren aber auch, dass es vereinzelt Widerstand in Deutschland gab – Gewerkschafter und Geistliche, die sich heimlich im untergrund trafen und überlegten, wie sie sich wehren könnten. Menschen, die den Hitlergruß verweigerten oder Juden und andere Verfolgte vor den Nazisversteckten. Studenten und Schüler, die Flugblätter verteilten und zum Widerstand aufriefen. Ich sah Salomon an, dass er dabei an Adelheid dachte.
Die Männer und Frauen unterhielten sich darüber, was von hier, von Paris aus, unternommen werden könnte, um Hitler und die Nazis zu Fall zu bringen und die anderen Länder auf die Gefahr hinzuweisen, die für die ganze Welt von ihnen ausging. Manche schlugen vor, Briefe an die Staatsoberhäupter zu schicken oder in ausländischen Zeitungen Artikel über die Lage in Deutschland, besonders über die Situation der Juden zu veröffentlichen. Andere wollten einfach nur abwarten.
»Abwarten, bis es zu spät ist?«, rief Frau Zucker. »Bis Hitler ganz Europa mit Krieg überzieht?«
»Noch ist kein Krieg«, sagte Herr Andres.
»Dafür sitzen Tausende in Konzentrationslagern. Dreißigtausend wurden allein in der Nacht, als die Synagogen brannten, verhaftet und in die KZs verschleppt. Fast hundert Juden wurden in einer Nacht ermordet. Das ist Krieg!«, entgegnete Frau Zucker erregt.
Wieder wurden Wetten abgeschlossen, wann der ganze Spuk vorbei sei. Jeder hatte eine andere Meinung. Keiner wollte die des anderen gelten lassen.
Anna saß die ganze Zeit fast bewegungslos vor ihrem Teller und stocherte im Erbseneintopf
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