Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert
stehen, hörte ein paar Minuten zu, warf eine Münze in den Koffer und ging weiter.
Am Abend kullerten ein paar Francs an meinen Beinen herum. Es war nicht viel, aber es genügte, um den Eintopf bei Madame Colette nicht anschreiben lassen zu müssen.
Als der Winter vorbei war, sodass Salomon nicht mehr inJacke und Hose schlafen musste, fragte Anna ihn nach dem Geigenunterricht: »Darf ich mit?«
Salomon war überrascht. Woher wusste sie, dass er nachmittags im U-Bahnhof spielte? Er hatte ihr nichts davon erzählt. Er erzählte ihr nie etwas, denn er konnte sie immer noch nicht leiden, obgleich ihr Geigenspiel in den letzten Monaten besser geworden war und sie sich auffällig viel Mühe gab. Doch nach dem Geigenunterricht wollte Salomon nichts mit ihr zu tun haben und ging ihr aus dem Weg.
»Ich geh dir auch nicht auf die Nerven.« Anna ließ nicht locker.
»Also gut, meinetwegen.«
Den ganzen Nachmittag saß Anna auf der Holzbank an der Haltestelle Notre Dame und hörte Salomon zu. Dabei ließ sie ihn nicht aus den Augen, als wollte sie sich alles genau einprägen. Salomon irritierten Annas auffällige Blicke, sodass er sich ein-, zweimal verspielte. Anna bemerkte es, reagierte aber nicht. Am Ende jedes Stückes klatschte sie laut, sodass andere Passanten – und mehr als üblich – stehen blieben und in den Applaus einfielen.
Am Abend waren fast doppelt so viele Francs im Geigenkoffer wie sonst.
»Hier, für dich!« Salomon wollte ihr ein paar Münzen zustecken.
»Vergiss es«, entgegnete sie. »Ich hab das nicht für Geld gemacht.«
Warum dann?, wollte Salomon fragen, traute sich aber nicht. Musste er auch nicht, weil Anna von selbst antwortete.
»Weil ich dich mag«, sagte sie nüchtern.
Salomon wurde wieder rot und hasste sich dafür.
»Gehst du morgen wieder mit?«, fragte er.
»Wenn ich darf!«
Ich lugte aus der Brusttasche seiner Jacke und fragte mich: Was ist denn da im Busch? Salomon schien meine Verwunderung zu bemerken und machte die Knöpfe zu.
* * *
Zwei Monate später sah Anna an der U-Bahn-Haltestelle Salomon nicht mehr nur beim Spielen zu, sondern spielte selbst mit. Manchmal wechselten sie sich ab. Anna spielte ein Lied, und Salomon hörte zu. Dann spielte Salomon, und Anna hörte zu. Meistens aber spielten sie gemeinsam. Dann blieben auch die meisten Passanten stehen. Abends teilten sie die Einnahmen, obwohl Anna jedes Mal darauf bestand, dass Salomon den Löwenanteil bekam.
»Du spielst doch viel besser als ich!«, sagte sie.
»Aber mit dir zusammen klingt es am besten.«
Salomon und Anna waren jetzt beinahe den ganzen Tag zusammen. Vormittags übten sie, nachmittags spielten sie in der U-Bahn, und abends saßen sie bei Madame Colette im Salon. Manche Hotelgäste tuschelten hinter vorgehaltener Hand und fragten Herrn Blumenthal, ob die beiden etwas miteinander hätten, alt genug wären sie ja.
Herr Blumenthal schüttelte vehement den Kopf und sagte: »Das ist rein künstlerisch!« und »Eine Freundschaft unter Künstlern!«
Die anderen feixten. Anna streckte den Neidhammeln und Stielaugen die Zunge heraus. Salomon dachte an Adelheid und hatte irgendwie ein schlechtes Gewissen.
* * *
An einem Sommertag, als Salomon mit Anna wieder an der Haltestelle Notre Dame stand und spielte, wobei ich wie stets im aufgeklappten Geigenkoffer vor ihnen stand, blieb eine Frau stehen und sah mich mit großen, verwunderten Augen an.
»Dich kenne ich doch!«, sagte sie. »Du bist doch …« Sie blickte zu Salomon, der immer noch auf seiner Violine spielte, und sagte unsicher, mehr als Frage denn als Feststellung: »Salomon?«
Salomon ließ die Geige sinken und starrte die Frau nun ebenfalls an wie eine Fata Morgana.
»Fräulein Weniger?«
Die Frau nickte. Dann fielen beide sich in die Arme.
An diesem Tag spielte Anna alleine weiter. Salomon, ich und Fräulein Weniger gingen nur wenige Meter von der U-Bahn-Station entfernt in ein Café.
Bei einer heißen Schokolade musste Salomon Frau Weniger alles haarklein erzählen, was sich nach ihrem Verschwinden ereignet hatte. Salomon erzählte von der Schule, von Herrn Schulz, von der Verhaftung seines Vaters, von seiner Flucht, der Reise und von dem Jahr hier in Paris. Die Worte sprudelten nur so aus ihm heraus. Er erzählte immer mehr Einzelheiten und vergaß dabei seine Schokolade, sodass sie kalt wurde.
Frau Weniger schüttelte hin und wieder den Kopf, sagte »Wahnsinn!« oder »Das darf doch nicht wahr sein!« und hing an Salomons
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