Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert
über dem Kopf!«
Nachdem der Bahnsteig sich ein wenig geleert hatte, nahm er mich in die linke Hand, seinen Geigenkoffer in die rechte, und ging los.
Es war sehr kalt auf dem Bahnhof. Ein eisiger Wind blies uns zwischen den Zügen hindurch ins Gesicht. Salomon hatte eine rote Nase, und sein Atem bildete kleine weiße Wölkchen vor seinem Mund. Als wir an das Ende des Bahnsteigs gelangten,hörten wir erstaunlich viele Stimmen, die wir verstehen konnten.
»Das sind alles Deutsche!«, sagte Salomon.
»Wie du!«, hörte ich jemanden hinter uns sagen.
Salomon erschrak. Er drehte sich um. Hinter ihm stand ein kleiner dicker Mann. Er hatte ein rundes, lustiges Gesicht und nur wenige Haare auf dem Kopf. Sein Mantel war bis zum letzten Knopf geschlossen und der Kragen hochgeschlagen.
»Verdammte Kälte!«, sagte er.
Salomon nickte.
»Du kommst aus Deutschland?«
Es klang gar nicht wie eine Frage. Vielmehr wie eine Feststellung. Der Mann wusste die Antwort, noch ehe Salomon etwas sagen konnte.
»Brauchst du ein Zimmer?«
»Was kostet es denn?«
»Es ist nicht teuer, dafür sehr klein.«
»Macht nichts.«
»Außerdem wohnen im Hotel Helvetia nur Deutsche. Deutsche wie du und ich.«
Der Mann ging voraus. Salomon folgte ihm.
»Übrigens, ich heiße Hans Blumenthal«, sagte der Mann.
»Salomon Morgenstern!«
»Morgenstern?« Der Mann wirkte überrascht, blieb stehen und musterte Salomon genauer. »Bist du der Sohn von Dr. Simon Morgenstern, Kinderarzt in Berlin?«
Salomon bejahte.
»Ich werd verrückt!« Blumenthal klopfte Salomon auf den Rücken. »Ich kenne deinen Vater! Ich war erst vor einem halben Jahr mit meiner Tochter bei ihm.«
»Die Nazis haben ihn mitgenommen«, sagte Salomon.
»Diese Schweine!« Herr Blumenthal sagte es ganz leise, kaum verständlich.
Herr Blumenthal und Salomon gingen eine Weile schweigend nebeneinander her, bis Salomon fragte: »Was haben Sie eigentlich am Bahnhof gemacht?«
»Ich bin jeden Tag dort«, sagte Herr Blumenthal. »Nach der Arbeit. Wegen dem Heimweh!«
Wieder gingen sie eine Zeit lang schweigend nebeneinander her. Die Straßen waren in ein schmutziges Grau getaucht. Nieselregen fiel. Die Leute, die ihnen entgegenkamen, gingen rasch an ihnen vorbei, von der Kälte gebückt.
Als sie in die Rue de Tournon einbogen und schon vor dem Hotel Helvetia standen, sagte Herr Blumenthal: »Und ich gehe jeden Tag zu den Zügen, um zu sehen, ob Freunde oder Bekannte ankommen. Oder Leute, die Freunde oder Bekannte kennen. Oder einfach welche, die ein bisschen Heimat mitbringen.«
Er öffnete die Tür.
»Heute warst du dabei.«
* * *
Das Zimmer im Hotel Helvetia war so klein, dass gerade mal ein Bett, eine kleine Kommode und ein Stuhl darin Platz hatten. Auf dem Stuhl stand ein Spirituskocher. Das Zimmer befand sich unter dem Dach. Es hatte eine Dachluke und schräge Wände, sodass Salomon nur in der Mitte aufrecht stehen konnte. Außerdem hatte die Kammer keine Heizung.
»Dafür ist sie sehr günstig«, sagte Madame Colette, die Besitzerin des Hotels. »Die günstigste Kammer im ganzen Haus!«Sie lachte, zeigte ihren zahnlosen Kiefer und fügte hinzu: »Die günstigste Kammer in ganz Paris!«
»Ich nehme sie«, sagte Salomon.
Er rechnete im Kopf aus, dass er mit dem Geld aus Adelheids Brottüte mindestens fünf Monate hier wohnen konnte.
Im Hotel wohnten tatsächlich nur Deutsche, wie Herr Blumenthal angekündigt hatte. Die meisten waren Künstler. Schriftsteller, deren Bücher in Deutschland von den Nazis verboten, sogar verbrannt wurden. Berühmte Namen waren darunter, die Salomon aus der Bibliothek seines Vaters kannte. Es gab auch Journalisten, die unter den Nazis Berufsverbot erhalten hatten; es gab Sozialdemokraten und Kommunisten, die man davongejagt hatte oder die freiwillig gingen, bevor sie in ein Konzentrationslager gesteckt wurden. Es gab Homosexuelle, die ebenfalls auf der Flucht vor den Nazis und den KZs waren. Es gab Ärzte und Rechtsanwälte. Es gab Maler, deren Bilder als »entartet« aus den Museen verbannt worden waren. Auch zwei Musiker gab es im Hotel. Einen Cellisten, der früher bei den Berliner Symphonikern gespielt hatte, und einen Posaunisten. Beides Juden, wie die meisten Gäste im Hotel.
Am Abend klopfte Herr Blumenthal an Salomons Kammer.
»Salomon, komm mit hinunter, Madame Colette hat gekocht.«
Salomon öffnete die Tür. »Ich kann mir das Essen nicht leisten.«
»Niemand hier kann es sich leisten.« Herr Blumenthal grinste. Sein
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