Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert
Lippen.
Nachdem Frau Weniger alles wusste, saßen sie sich eine Zeit lang schweigend gegenüber. Schließlich zeigte Frau Weniger auf die Schokolade und sagte: »Trink!«
Salomon trank die kalte Schokolade in einem Zug aus, wischte sich den Schokoladenbart vom Mund und dachte: Die Schokolade von Frau Brenner war besser.
Frau Weniger bestellte noch eine Schokolade. Als sie kam, fragte Salomon: »Und wie war es bei Ihnen?«
Frau Weniger machte »Hm«, überlegte und schien am liebsten nicht darüber sprechen zu wollen. Doch Salomons Blicke klebten so auffordernd an ihr, dass Frau Weniger gar nichts anderes übrig blieb, als zu erzählen.
»Ich bin schon lange hier«, sagte sie. »Nachdem mich die Nazis aus dem Schuldienst entlassen hatten, brachten sie mich ins KZ Sachsenhausen. Zum Glück konnte ich nach ein paar Tagen flüchten. Ich bin zuerst nach Prag, dann in die Schweiz und von da hierher nach Paris. Hier habe ich mich einer Gruppe angeschlossen, die Verfolgten und Emigranten dabei hilft, in Sicherheit zu gelangen.«
»Ist es hier denn nicht sicher?«
»Ich weiß es nicht. Ich glaube nicht. Ich glaube, das ist erst der Anfang. Die Nazis wollen die ganze Welt mit Krieg überziehen; die Vorbereitungen laufen auf Hochtouren. Es ist nur noch eine Frage der Zeit. Außerdem wollen sie alle Juden vernichten. Deshalb besorgen wir Leuten, die von den Nazis verfolgt werden, Einreiseerlaubnisse in andere Länder, vor allem nach Amerika. Da sind sie sicher.«
Wieder schwiegen sie eine Weile, während die Schokolade erneut kalt wurde.
»Wie ist es eigentlich im KZ?«, fragte Salomon nach einer Pause.
Er wusste von Adelheid, dass auch sein Vater nach Sachsenhausen gebracht worden war.
Frau Weniger machte wieder: »Hm.« Dann sagte sie: »Furchtbar! Die Menschen werden systematisch vernichtet. Sie bekommen schlechtes Essen, sind abgemagert, werden gedemütigt und müssen bei Zwangsarbeit schuften. Sie werden geschlagen, gefoltert und wie Tiere behandelt.«
»Papa ist auch da!«
Frau Weniger nahm Salomon in den Arm. »Vielleicht ist ihm ja die Flucht gelungen.«
Anna kam durch die Drehtür ins Café. Sie blieb an der Tür stehen, als sie Salomon in den Armen von Frau Weniger sah. Dann machte sie auf dem Absatz kehrt und verließ schnell wieder das Café.
»Anna!«, rief Salomon ihr hinterher.
Anna war verschwunden.
»Sie ist verliebt in dich!«, sagte Frau Weniger.
Salomon wurde rot und hob die Schultern.
* * *
Am nächsten Abend fand im Salon von Madame Colette ein Konzert statt. Zuerst spielten die beiden ehemaligen Berliner Symphoniker auf dem Cello und der Trompete.
Dann stellten sich Anna und Salomon auf zwei zusammengeschobene Tische und spielten gemeinsam eine Suite von Mozart. Alle Zuhörer applaudierten begeistert und riefen nach einer Zugabe, sodass sie noch eine Suite spielten. Von da an wollte Anna nicht mehr Schauspielerin, sondern Geigenvirtuosin werden. Herr Blumenthal strahlte übers ganze Gesicht. Auch Salomon schien zufrieden zu sein.
Abends, als er wieder mit dem Plumeau bis unters Kinn im Bett lag und ich auf dem Fenstersims stand, sagte er in der vomMond nur spärlich beschienenen Kammer zu mir: »Ich glaube, Frau Weniger hat recht.«
Zuerst wusste ich nicht, was er meinte. Ich grübelte, kam aber nicht darauf. Als wollte er mich auf die Folter spannen, schwieg er eine ganze Weile.
»Anna ist in mich verliebt«, sagte er dann und lächelte. Ich konnte es im düsteren Licht kaum erkennen. Doch selbst wenn ich es nicht erkannt hätte, ich hätte es auch so gewusst. Salomon schwieg daraufhin wieder eine Weile. Dann sagte er ganz leise zu mir: »Und weißt du, was das Schönste ist?«
Noch ehe ich es mir denken konnte, ergänzte er: »Ich bin in sie verliebt.«
Jetzt lächelte auch ich. Alt genug sind sie ja, ging es mir durch den Kopf.
»Einerseits!«, sagte Salomon nach einer langen Pause. Nach einer noch längeren fügte er hinzu: »Andererseits habe ich irgendwie ein schlechtes Gewissen. Wegen Adelheid. Je länger ich von ihr weg bin, umso mehr muss ich an sie denken. Je besser ich mich mit Anna verstehe, umso schlechter komme ich mir Adelheid gegenüber vor. Verstehst du das?«
»Einerseits schon«, sagte ich. »Andererseits muss man beides trennen. Adelheid ist Adelheid, und Anna ist Anna. Das eine ist Paris, das andere Berlin. Du bist hier, und Adelheid ist dort.«
Ich weiß nicht, ob Salomon mich verstand.
Noch ehe er antworten konnte, schlief er ein.
* * *
Salomon lag
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