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Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert

Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert

Titel: Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sobo
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herum.
    »Wie lange bist du eigentlich schon hier?«, wollte Salomon wissen, während er heißhungrig den Eintopf hinunterschlang.
    »Zu lange«, sagte Anna so leise, dass Salomon genau hinhören musste, um es zu verstehen.
    Es klang ziemlich ernüchternd. Wie zur Bestätigung fügte Anna hinzu: »Ich muss das Zimmer mit meinem Vater teilen.Jeden Vormittag verdonnert er mich zum Geigeüben. Er will eine Geigenvirtuosin aus mir machen.« Sie lachte. »Völlig unmöglich.«
    Sie stocherte wieder im Erbseneintopf herum.
    »Iss, mein Kind!«, sagte Herr Blumenthal. »Solange es noch etwas gibt. Sonst essen es andere.«
    Anna legte ihren Löffel auf den Tisch und schob ihren Teller Salomon zu. Herr Blumenthal blickte verärgert.
    »Und nachmittags«, flüsterte Anna wieder zu Salomon, »muss ich auf die ungezogenen Kinder von Franzosen aufpassen.«
    Ich dachte an die kalte Kammer unter dem Dach, an das Geld in der Brottüte, das immer weniger wurde, und versuchte, Anna zu verstehen, doch es gelang mir nicht. Auch Salomon schien Annas Probleme nicht begreifen zu können. Geigenvirtuosin? Ein Zimmer zu zweit? Ungezogene Kinder? Was war das schon gegen 30 000 verhaftete Juden? Salomon schüttelte den Kopf.
    »Und was willst du aus dir machen, wenn nicht eine Geigenvirtuosin?«, fragte er.
    »Schauspielerin«, sagte Anna. »Eine berühmte Schauspielerin!«
    Undankbare Zicke , dachte ich.
    Salomon stand auf. »Ich bin müde.«
    Kaum jemand bemerkte, wie er den Salon verließ. Er ging auf sein Zimmer. Ohne sich auszuziehen, legte er sich ins Bett und zog das Plumeau bis unter das Kinn. Ich stand am Fenstersims und schlotterte. Es war fast so kalt wie im Schaufenster des Holzschnitzladens in Oberammergau. Die Kälte drückte sich durch die fingerdicken Ritzen der Dachluke und unterder Tür hindurch in die Kammer, sodass Salomon auch in der Nacht eine rote Nase hatte.
    * * *
    Die meisten Gäste verließen am frühen Morgen das Hotel, fast alle ohne Frühstück. Rechtsanwälte, Ärzte, Schriftsteller, Maler und Journalisten arbeiteten in Handschuhfabriken und Schreibwarenläden. Sie verpackten Geschirr, schippten Schnee, wuschen Autos oder arbeiteten als Zeitungsausträger, um wenigstens ein paar Francs zu verdienen. Nur Dr. Zaberski blieb den ganzen Tag in seinem Zimmer und empfing Leute.
    »Was macht er denn da?«, fragte Salomon.
    »Dr. Zaberski ist Arzt, so wie dein Vater«, sagte Herr Blumenthal. »Er praktiziert jeden Tag von morgens bis abends in seinem Zimmer. Aber, pssst!« Er legte den Zeigefinger auf den Mund. »Er hat keine Arbeitserlaubnis. Deshalb versteckt er seine Instrumente unter dem Bett und hinter dem Schrank.« Er schmunzelte. »Also, wenn dich irgendwo der Schuh drückt, Dr. Zaberski weiß immer Rat.«
    »Das kann ich mir nicht leisten«, sagte Salomon.
    Ich dachte an die Brottüte von Adelheid, die sich immer schneller leerte.
    Herr Blumenthal lachte. »Auch bei Dr. Zaberski kannst du anschreiben lassen.« Er dachte nach. Dann sagte er: »Du kannst dir aber auch ein paar Francs dazuverdienen.«
    »Und wie?«
    Er beugte sich ganz nahe zu Salomon vor und flüsterte: »Meine Tochter will unbedingt Geigenvirtuosin werden. Na ja, bis dahin ist es noch ein langer, steiniger Weg. Vielleichtkannst du ihr ja ein wenig helfen. Ich habe dich gestern spielen hören.« Er schürzte den Mund und küsste in die Luft. »Du bist bereits ein Geigenvirtuose!«
    »Na, ich weiß nicht.«
    »Aber ich!«, sagte Herr Blumenthal. »Du kannst es mir ruhig glauben. Ich verstehe was davon. Also, abgemacht!«
    Jeden Vormittag übte Salomon jetzt mit Anna Geige. Sie spielte nicht gut. Sie hatte Talent, aber keine Lust.
    »Mir ist es egal, ob du Geigenvirtuosin, Schauspielerin oder Putzfrau wirst«, sagte Salomon verärgert, als sich Anna zum wiederholten Male auf den Saiten vergriff. »Ich tue das nicht aus Leidenschaft, wegen deinem Geigenspiel. Ich tu’s, weil dein Vater mir ein paar Francs dafür gibt. Du brauchst dich also nicht anzustrengen, falsch zu spielen. Solange er möchte, dass ich dich unterrichte, werde ich das tun. Nicht wegen dir, sondern wegen mir. Klar?«
    Von da an spielte Anna nur noch ganz selten falsch.
    * * *
    Nachmittags ging Salomon zur U-Bahn-Station Notre Dame und spielte an der zugigen Haltestelle Suiten von Mozart, Schubert und Bach. Er hoffte, dass die Passanten ein paar Francs in den aufgestellten Geigenkoffer warfen.
    Ich stand im Koffer, schaute zu und hoffte ebenfalls. Manchmal blieb tatsächlich jemand

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