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Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert

Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert

Titel: Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sobo
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Hotel Helvetia wurden die Koffer gepackt. Alle waren in heller Aufregung. Manche saßen auf den gepackten Koffern und warteten, ohne eigentlich zu wissen, worauf. Andere brachen in einer Nacht-und-Nebel-Aktion auf und flohen nach Spanien oder Portugal.
    Salomon und ich waren ratlos. Wir saßen im Salon von Madame Colette und wussten nicht, was wir tun sollten. Im Radio wurde der Kampfverlauf geschildert. Die deutschen Truppen kamen immer näher. Eine französische Stadt nach der anderen fiel den Angreifern zum Opfer.
    Auch Herr Blumenthal hatte die Koffer gepackt. Er wollte in ein paar Tagen mit seiner Tochter Anna in den Süden ziehen.
    »Nach Portugal«, sagte er. »Von da aus weiter nach Afrika, wenn wir endlich ein Visum bekommen.« Er blickte Salomon an. »Wenn du willst, kannst du mit uns kommen.«
    * * *
    Zwei Tage später kam Frau Weniger in den Salon gestürzt.
    »Da bist du ja!«, sagte sie zu Salomon. »Ich war schon an der u-Bahn-Station.«
    »Ich spiele heute nicht«, entgegnete Salomon.
    »Du wirst hier überhaupt nicht mehr spielen«, sagte Frau Weniger. »Du musst sofort weg.«
    »Wir müssen alle weg!«, sagte Doktor Zaberski.
    »Ja, nur wohin?«, ergänzte Herr Andres.
    »Nach Amerika!«, sagte Frau Weniger.
    »Dafür braucht man ein Visum«, erklärte Frau Zucker.
    »Wir tun unser Bestes«, entgegnete Frau Weniger. Schließlich gehörte sie ja einem Komitee an, das mit Hilfe amerikanischer Kunstverbände und Schriftstellervereinigungen bedrohten Künstlern zur Flucht von Europa nach Amerika verhalf. Es gab natürlich viel mehr bedrohte Künstler als Einreiseerlaubnisse, sodass ein Platz auf einem Schiff nach Amerika ein Glückstreffer war.
    »Hier!« Frau Weniger steckte Salomon einen Zettel zu.
    Salomon verstand nicht, mir aber dämmerte es. Der Zettel war eine der heiß begehrten Einreiseerlaubnisse in die Vereinigten Staaten von Amerika.
    »Aber warum bekomme ich …«
    »Ist doch egal!«, platzte Frau Weniger dazwischen. »Ich habe es für dich beantragt. Los jetzt, komm schon.«
    Sie zerrte ihn am Ärmel aus dem Salon. Salomon holte seinen Geigenkoffer aus der Kammer und eine Tüte, in der alle seine Habseligkeiten waren. Er steckte mich in die Jackentasche und beglich seine Schulden bei Madame Colette. Die fiel ihm um den Hals, küsste ihn mit ihrem zahnlosen Mund mehrmals auf die Wangen und weinte ein wenig.
    »Ich muss noch zu Anna.«
    »Wir haben keine Zeit. In einer halben Stunde fährt dein Zug nach Marseille.«
    Doch Salomon machte sich los, sprang noch einmal die Treppe nach oben und klopfte an Annas Zimmer. Herr Blumenthal öffnete.
    »Ist Anna nicht da?«
    »Sie ist unterwegs.«
    Salomon sagte traurig: »Richten Sie ihr bitte schöne Grüße aus, ich muss weg. Ich habe ein Visum …«
    »Amerika?«
    Salomon nickte.
    »Herzlichen Glückwunsch und viel Glück.« Herr Blumenthal umarmte Salomon.
    Vom Treppenabsatz rief Frau Weniger besorgt: »Salomon, komm endlich!«
    * * *
    Das Schiff lag zum Ablegen bereit im Hafen von Marseille. Wir hatten es geschafft. Frau Weniger war erleichtert. »Da haben wir aber noch mal Glück gehabt«, sagte sie.
    »Wir?«, fragte Salomon erstaunt. »Sie meinen wohl mich!«
    Frau Weniger schmunzelte und nickte. »Jetzt aber nichts wie rauf mit dir auf den Dampfer!«
    »Und Sie?«
    »Was, ich?«
    »Warum fahren Sie nicht mit?«
    »Ich muss hierbleiben.«
    »Warum?«
    »Hier kann ich mehr bewirken.«
    »Was bewirken?«, fragte Salomon.
    Frau Weniger blickte Salomon lange an. Dann flüsterte sie so leise, als sollte niemand anders es hören: »Widerstand leisten.«
    »Hier in Frankreich?«
    »Nein, im Deutschen Reich«, sagte Frau Weniger. »Ich gehe zurück in die Höhle des Löwen. Mit falschen Papieren und anderer Identität.«
    »Wohin?«
    »Nach Berlin.«
    »Nach Berlin?« Salomons Augen leuchteten. »Dann treffen Sie vielleicht Adelheid.«
    Frau Weniger schaute Salomon längere Zeit an. Dann sagte sie, wieder so leise wie zuvor: »Sicher.«
    Salomon war verwirrt. »Sicher?«, fragte er. »Warum sicher?«
    Wieder überlegte Frau Weniger, ehe sie antwortete: »Das bleibt jetzt unter uns, Salomon, ist das klar?«
    Salomon nickte.
    »Schwör’s!«
    Salomon hob die Finger.
    »Adelheid leistet ebenfalls Widerstand. Sie hat sich einer Widerstandsbewegung angeschlossen. Aber nicht nur sie, auch viele andere. Viele denken wie wir. Es gibt eine Gruppe, zu der ein paar hundert Leute gehören. Sie nennt sich ›Rote Kapelle‹.«
    Salomon staunte. Adelheid eine

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