Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert
Widerstandskämpferin? Dann hatte sie ihre Ankündigung also wahrgemacht. Zum einen war er stolz auf sie, zum anderen wusste er genau, was das bedeuten konnte.
»Wenn das ihr Nazi-Vater wüsste.« Salomon grinste in sich hinein.
»Ich schließe mich auch der Roten Kapelle an«, flüsterte Frau Weniger. »Um vielleicht doch noch das Allerschlimmste in diesem Nazi-Deutschland zu verhindern.«
Was das war, konnte ich nur erahnen.
Die Gangway war schon zum Einholen bereit. Frau Weniger hielt bereits das weiße Taschentuch in der Hand, um dem abfahrenden Schiff zu winken. Salomon zögerte. Dann nahm er mich aus der Manteltasche und drückte mich Frau Weniger in die Arme, Tränen in den Augen.
»Für Adelheid«, sagte er. »Sagen Sie ihr, dass ich an sie denke und hoffe, dass wir uns bald wiedersehen.«
Er ging an Bord. Die Leinen wurden losgemacht, und das Schiff verließ langsam den Hafen.
Ich lag in den Händen von Frau Weniger und war in Gedanken noch ganz bei Salomon. Wieder verjagt, wieder vertrieben , dachte ich. Wieder auf der Flucht . Dieses Mal übers Meer, auf die andere Seite der Welt. Ich sah Salomon nach, der mit finsterem Blick an der Reling stand und aufs Wasser schaute. Ich wusste, dass er in diesem Moment an all jene dachte, die er zurücklassen musste. In Paris, in Marseille, in Berlin, in Deutschland, in Europa. Seine Mutter, seinen Vater, Adelheid, Anna, Frau Weniger und alle anderen im Hotel Helvetia. Und natürlich mich. Er war traurig und fragte sich, ob es nicht besser gewesen wäre, bei den anderen zu bleiben. Vielleicht mit Anna und Herrn Blumenthal nach Portugal zu gehen.
Ich aber wusste, dass die Überfahrt nach Amerika die einzige Möglichkeit für ihn war, diesem Horror zu entkommen.
Als das Schiff nicht mehr zu sehen war, wischte Frau Weniger sich mit ihrem weißen Taschentuch die Tränen aus dem Gesicht, schnäuzte sich und sagte erstaunlich fröhlich: »Na dann, mein lieber Nussknacker, wollen wir mal wieder zurück in den Albtraum. Du weißt ja, Adelheid wartet!«
1941 – 1942, Berlin
»Adelheid ist verschwunden.«
»Nein!«
»Doch, sie haben sie geschnappt.«
»Wo ist sie jetzt?«, fragte Frau Weniger.
»Die Gestapo hat sie eingesperrt und verhört sie. Es sieht schlecht aus.«
Frau Weniger schwieg. Dann sagte sie, fast wie zu sich selbst: »Was mache ich denn jetzt mit diesem Nussknacker?«
»Was für ein Nussknacker?«
Frau Weniger zog mich aus der Tasche.
»Süß!«, sagte ein Mädchen, das ein bisschen jünger war als Adelheid, als sie mich in der Hand von Frau Weniger sah.
»Gefällt er dir?«
Das Mädchen nickte.
»Ab jetzt gehörst du Rosa«, sagte Frau Weniger zu mir.
Rosa lachte, bedankte sich bei Frau Weniger und betrachtete mich ganz genau, als wollte sie mich mit ihren strahlendblauen Augen durchschauen. Oder so, als hätte sie in naher Zukunft etwas Besonderes mit mir vor. Ich muss gestehen, Rosa war mir auf Anhieb sympathisch.
»Wir werden ein gutes Team abgeben!« Sie küsste mein Gesicht. Was mir weniger sympathisch war.
* * *
Rosa wohnte bei ihrem Vater in Berlin Prenzlauer Berg. Es war eine geräumige Wohnung im dritten Stock, mit hohen Decken und großen Fenstern. Rosa hatte das größte Zimmer. Das Zimmer ihres Vaters war nur halb so groß. Es gab noch ein Gästezimmer, ein Wohnzimmer und eine große Küche mit Balkon. Eine Mutter gab es nicht. Rosa sprach auch nie davon. Ebenso wenig ihr Vater. Es schien, als kämen die beiden ganz gut ohne Ehefrau und Mutter klar. Rosa ging nicht mehr zur Schule. Warum, wusste ich nicht. Sie war vielleicht zwölf, höchstens vierzehn, und eigentlich noch schulpflichtig. Oft war Rosa zu Hause, was ich sehr angenehm fand, denn so hatte ich sie ganz in meiner Nähe. Es gibt nichts Langweiligeres, als irgendwo auf einer Kommode herumzustehen und Löcher in die Luft zu starren. Viel spannender ist es, überall mit dabei zu sein oder seine Nase in fremder Leute Angelegenheiten zu stecken.
Rosa kochte meistens für sich und ihren Vater. Abends hörte sie den Volksempfänger. So leise, dass ich nichts verstehen konnte und Rosa auch nur, wenn sie das Ohr direkt an das Gerät legte.
Einmal konnte ich zwar etwas hören, aber nichts verstehen. Es waren ausländische Stimmen, die aus dem Radio sprachen.
Manchmal half Rosa auch bei Dr. Rudolf, einem Bekannten ihres Vaters, in dessen Zahnarztpraxis aus, gleich um dieEcke ein paar Häuser weiter. Auch dahin nahm Rosa mich mit. Sie stellte mich auf den Empfangstresen,
Weitere Kostenlose Bücher