Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert
hielt sich den Finger vor den Mund. Dann zupfte sie an Rosas Frisur herum. »Genau, hässlich und harmlos wie ein Monster und so jung, als wärst du noch grün hinter den Ohren.« Sie grinste. »So fällst du am wenigsten auf.«
Da war Rosa sich nicht so sicher. Ehrlich gestanden, ich auch nicht.
»Schon so spät!« Frau Rosengarten zeigte auf die Küchenuhr, die leise vor sich hin tickte. »Du musst los!«
Noch ehe Rosa etwas an ihrem Aussehen ändern konnte, stand sie wieder im Treppenhaus.
»Viel Glück!«
»Danke.«
* * *
Draußen war es heiß. Die Mittagssonne stach vom Himmel und drohte alles zu verflüssigen. Ich schwitzte. Rosa ebenfalls. Unter ihren Achseln bildeten sich große nasse Flecken. Ob es nur die Hitze war oder auch ein wenig Angst, war schwer zu sagen. Rosa gab sich sehr tapfer, obgleich sie sich auf dem Weg ins Reichswirtschaftsministerium ständig beobachtet fühlte.
»Die gucken mich alle so komisch an!«, flüsterte sie kaum verständlich.
Kein Wunder , dachte ich, bei dieser Aufmachung.
Rosa blickte sich immer wieder um, blieb hin und wieder an einem der Schaufenster stehen und versuchte, in der spiegelnden Scheibe etwaige Verfolger auszumachen. Nichts. Niemand schien sich für sie zu interessieren.
Als wir am Ministerium ankamen, zog Rosa mich aus dem Beutel und nahm mich in die Hand.
Dann öffnete sie die große zweiflüglige Tür. Wir standen in einer angenehm kühlen Eingangshalle, in der ein älterer Mann auf uns zukam. Gleich hinter ihm her trottete ein Schäferhund. Aus seinem Maul hingen Speichelfäden. Es roch auffällig nach Schweiß und ungewaschener Wäsche. Ob es der Alte oder der Hund war, konnte ich nicht sagen.
»Na, wer kommt denn da?« Der Uniformierte fragte es neugierig und baute sich vor uns auf, während der Hund ebenso neugierig an mir schnüffelte. Er stank aus dem Maul wie eine Jauchegrube.
»Rosa«, sagte Rosa mit piepsiger Stimme.
»Ah, Rosa«, entgegnete der Mann, als würde er sie schon lange kennen. »Und was will die kleine Rosa hier?«
Geheime Unterlagen herausschmuggeln , dachte ich, wenn du’s genau wissen willst, du Knallkopf. Aber so genau brauchst du es nicht zu wissen.
Der Hund dagegen schien seiner Neugier freien Lauf zu lassen. Er schleckte mit seiner feuchten, schlabberigen Zunge an mir herum, bis der Mann halbherzig »Lass das, Adolf!« sagte. Adolf ließ es natürlich nicht. Mein Blick war schon ganz verschwommen.
»Ich will zu meinem Papa«, sagte Rosa noch immer ganz leise, als wäre sie eingeschüchtert von der lauten Stimme des Mannes.
»Name?«
»Roloff!«
»Soso, zu Herrn Roloff willst du also. Und der Grund, wenn ich fragen darf ?«
Rosa überlegte kurz.
»Er hat zu Hause was vergessen.«
»Vergessen, aha. Und was? Oder willst du mir das nicht sagen?« Der Mann sprach mit Rosa, als wäre sie nicht zehn, sondern drei. Oder geistig nicht ganz auf der Höhe.
Rosa griff in ihre Tasche.
»Seine Uhr.«
Rosa hielt in der einen Hand die Uhr und in der anderen noch immer mich, der sich durch Adolfs Zunge langsam aufzulösen begann. Irgendwie hatte dieser deutsche Schäferhund einen Narren an mir gefressen.
»Und die willst du ihm jetzt bringen, was?«
Rosa nickte.
»Du bist aber ein artiges Mädchen, was?«
Der Mann beugte sich zu Rosa herunter und lächelte.
Wieder nickte Rosa.
»Und damit du nicht so alleine bist, hast du deinen Freund gleich mitgebracht.«
Rosa schien nicht gleich zu verstehen. Erst als der Mann auf mich zeigte, bejahte sie erneut ganz energisch.
»Na, dann geh mal zu deinem Papa. Zweiter Stock, Nummer zweihundertacht.«
»Danke.«
Rosa ging langsam an dem Mann vorbei. Umso schneller stolperte sie dann die Treppe hinauf.
»Schön langsam«, rief der Uniformierte ihr hinterher. »Sonst geht die schöne Uhr noch zu Bruch.«
»Mein Gott, war der abstoßend«, flüsterte Rosa und schüttelte sich.
Ich weiß nicht, ob sie den Mann oder den Hund meinte. Egal, es traf auf beide zu.
»Hier muss es sein.«
Ohne zu klopfen öffnete Rosa die Tür.
»Was willst du denn hier?«
Ihr Vater stand hinter einem Schreibtisch. Rosa blickte erstaunt.
Er weiß doch, was sie hier will , dachte ich. Rosa dachte offenbar dasselbe. Doch ehe sie etwas sagen konnte, legte ihr Vater schon den Zeigefinger auf seinen Mund.
»Die Uhr!« Rosa sagte es noch immer mit der piepsigen Stimme.
Ihr Vater redete jetzt auffällig laut, sagte, dass er sich freue über die Uhr, und dass sie ein artiges Mädchen sei, ohne Rosa
Weitere Kostenlose Bücher