Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert
dabei anzuschauen.
Auch Rosa redete vor sich hin, ähnlich laut wie ihr Vater, dass sie die Uhr auf dem Küchentisch liegen gesehen und gedacht habe, der Vater brauche sie doch. Auch sie sah ihren Vater dabei nicht direkt an. Sie beobachtete aber ganz genau, was er während des eigenartigen Gesprächs alles anstellte. Und das war einiges.
Rosas Vater stieg auf einen Stuhl. Aus der obersten Regalreihe zog er leise ein Buch heraus. Dahinter holte er eine kleine Papierrolle hervor und stellte anschließend das Buch zurück.Er stieg wieder vom Stuhl, wobei er fast in den Papierkorb getreten wäre. Dann griff er nach mir, pulte den Korken heraus und steckte die Papierrolle mit zittrigen Fingern in das Loch in meinem Körper.
Sie passte genau.
Plötzlich klopfte es. Er stopfte den Korken wieder hinein, rief »Herein!« und gab mich Rosa zurück.
Ein Mann in Naziuniform stand in der Tür.
»Verzeihen Sie, wenn ich störe.«
»Nein, nein, kommen Sie nur herein«, sagte Rosas Vater auffällig freundlich. »Wir sind schon fertig.«
»Wiedersehen, Papa«, piepste Rosa. Sie drängte sich an dem Mann vorbei und versuchte, ihn nicht anzusehen.
»Wiedersehen, und danke für die Uhr!«
»Bis heute Abend.«
»Eine entzückende Tochter haben Sie«, hörte ich den Mann in Uniform noch sagen, während Rosa die Tür bereits wieder von außen schloss.
Wir eilten durch die langen, nach Bohnerwachs riechenden kahlen Flure des Reichswirtschaftsministeriums auf der Suche nach dem Ausgang.
»Der war hier doch irgendwo!«, murmelte Rosa.
Ich kannte mich in diesem Labyrinth aus verzweigten, hinter jeder Ecke auftauchenden Gängen auch nicht mehr aus.
»Kann ich dir helfen?«
Wieder stand ein Mann in Uniform vor uns.
»Ich … suche den Ausgang!«, stammelte Rosa.
»Einfach die Treppe runter, dann bist du schon da!« Er zeigte nach rechts. Dann zeigte er auf mich. »Du hast aber einen schönen Nussknacker.«
Der Mann starrte mich an, als könnte er mich im wahrsten Sinne des Wortes durchschauen und sehen, was sich in meinem Inneren befand. Ohne sich zu bedanken, stürmte Rosa los.
Endlich am Ausgang angekommen, stand schon wieder der Pförtner an der Tür. Er feixte hinterhältig und fragte erneut, als hätte er ein Kleinkind vor sich: »Na, ist die Uhr beim Papa?«
Rosa nickte. Adolf kam direkt auf mich zugelaufen und schleckte wieder an mir herum.
»Und der Papa ist stolz auf das Mädchen, was?«
Klar , dachte ich, aber ganz anders, als du vielleicht denkst. Rosa dachte offenbar Ähnliches und ließ durch entschiedene Kopf bewegungen keine Zweifel entstehen.
»Da bin ich aber froh!«
Na, dann mach endlich die Tür auf , dachte ich.
»Nichts vergessen?« Der Mann zeigte auf mich. »Und der ist auch wieder dabei!«
Adolf bellte, und Rosa schüttelte den Kopf.
Der Mann öffnete die Tür. »Schöne Schnecken hast du.« Er wollte gerade nach ihren Haarschnecken greifen, als Rosa langsam, aber schneller, als der Mann erwartet hatte, an ihm und der aufgehaltenen Tür vorbei in die brütende Berliner Sommerhitze hinaustrat. Wieder bellte Adolf. Er wäre uns bestimmt hinterhergerannt, hätte der Pförtner ihn nicht zurückgehalten.
Ohne sich umzuschauen ging Rosa davon, wobei sie mich fest umklammerte.
Irgendwie scheinen die Nazis tatsächlich auf diese bescheuerten Haarschnecken abzufahren , dachte ich, als Rosa außer Sichtweite des Ministeriums schon damit anfing, an den Schnecken herumzunesteln.
»Und ihre Hunde stehen auf Nussknacker«, sagte Rosa, als hätte sie meine Gedanken durchschaut.
* * *
Bis zum Tiergarten war es nicht weit. Gleich hinter dem Brandenburger Tor auf der rechten Seite hinter der Gaststätte sollte der Sohn von Mr Donald warten. Doch als wir ankamen, war nirgends ein Junge mit Strohhut und kurzen Hosen zu sehen. Dafür umso mehr Männer in Naziuniformen, die sich irgendwie seltsam nach uns umdrehten. Ich sah auch Frauen mit einem aufgenähten Stern am Revers. Jüdische Menschen mussten seit 1940 für alle sichtbar einen Stern tragen.
»Wo steckt der bloß?«, murmelte Rosa vor sich hin. Sie hielt mich noch immer fest umklammert.
Es pfiff. Rosa erschrak. Es pfiff noch einmal. Wo der Pfiff herkam, war nicht auszumachen. Rosa pfiff jetzt ebenfalls. Wieder ertönte ein Pfiff als Antwort. So ergab der eine den anderen, bis ein kleines Liedchen entstand, dessen Melodie ich noch nie gehört hatte. Dann trat ein Junge mit weißem Hut und kurzer Hose hinter einem Baum hervor und sagte: »Hier bin
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