Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert
allerhand anderem Krimskrams.
* * *
Lotte wohnte mit ihrem Bruder Ernst und ihrer Mutter in einer winzigen Wohnung im Westen von Berlin. Die Wohnung bestand aus einer kleine Küche und einem noch kleineren Zimmer, das so vollgestopft war, als wollte es aus allen Nähten platzen. Ernst schlief in einem Feldbett, während Lotte mit der Mutter zusammen auf einer Liege schlief, die viel zu schmal war für beide, sodass nachts immer wieder eine von ihnen aufwachte. Wenn Lotte sich dann schlaftrunken beschwerte, sagte ihre Mutter jedes Mal unwirsch: »Sei froh, dass du überhaupt in einem Bett schlafen kannst. Andere haben nicht mal eine Matratze und müssen auf dem Boden pennen!«
Trotzdem schlief Lotte nicht besser.
Die Wohnung befand sich in einem Haus, das nur noch zur Hälfte stand. Die andere Hälfte hatte sich bei einem Bombeneinschlag im Krieg in Staub und Schutt aufgelöst.
Jeden Morgen verließ die Mutter in aller Herrgottsfrühe die Wohnung und schuftete mit anderen Frauen bis zum späten Abend in den Ruinen. Die Frauen klaubten zwischen den Trümmern die Ziegelsteine heraus, klopften den Schutt ab und schichteten sie aufeinander. Sie schippten mit Schaufeln, manchmal auch mit bloßen Händen, das Geröll in Schubkarren. Mit den Schubkarren fuhren sie dann den Dreck, der von den eingestürzten Häusern übrig war, zu wartenden Lastwagen. Diese brachten ihn auf den Trümmerberg in der Stadt. Da wurde der ganze Schutt auf einen Haufen gekippt, der von Tag zu Tag größer wurde.
Wenn die Mutter das Haus verlassen hatte, begannen für Lotte die schönsten Stunden. Jetzt hatte sie das Bett für sich alleine. Sie streckte Arme und Beine so weit von sich, wie sie nur konnte, und blieb so lange liegen, bis ihr der Rücken wehtat. Dann stand sie auf. Sie zog ihre Kleider an, die aus alter Fallschirmseide zusammengenäht waren, schnallte sich ihren Schulranzen auf den Rücken und stromerte bis zum Abend durch die Stadt. Sie trieb sich in zusammengefallenen Häusern herum und durchstreifte Straßen und Hinterhöfe, immer auf der Suche nach Brauchbarem.
Am Wittenbergplatz traf sie jeden Mittag einen jungen Mann in verlotterter und verdreckter Kleidung, der auf der Straße saß und die Hand aufhielt. Lotte setzte sich neben ihn und sagte jedes Mal: »Ich bin’s, Lotte!«
Komisch , dachte ich, hat der denn keine Augen im Kopf ? Augen schon, aber die konnten nichts sehen. Der Mann war blind.
»Lotte!«, entgegnete er immer erfreut. »Schön, dass du da bist. Was gibt’s Neues?«
Lotte erzählte dann meistens von zu Hause. Von der Mutter, von Ernst und von sich selbst. Der Mann hörte aufmerksam zu, sagte hin und wieder »Das wird schon wieder« oder »Nicht so schlimm!« Manchmal machte er aber auch nur »Hm« oder »Oje.«
Einmal erzählte er auch von sich. Er sagte, er wäre im Krieg gewesen und hätte Glück im unglück gehabt.
»Nur blind, nicht tot. Aber manchmal wäre tot besser. Manchmal wünschte ich mir, lieber tot als blind zu sein.«
»Red keinen unsinn!«, erwiderte Lotte darauf, sodass der Blinde gar nichts mehr sagte.
Ein anderes Mal erzählte er, dass alle seine Freunde im Krieg gefallen wären. Auch aus seiner Familie hätte niemand diese Zeit überlebt. »Nur ich. Ich bin der Einzige, der übrig geblieben ist. Ich ganz allein!«
»Du hast doch mich.« Lotte klopfte dem Mann liebevoll auf die Schulter.
Der Blinde schmunzelte.
»Dich, Lotte, ja.«
Dann aber wurde er wieder traurig. Er sagte, dass er manchmal ganz froh sei, nichts mehr zu sehen, weil er sich das ganze Leid nicht mehr mit eigenen Augen anschauen müsse.
»Meine Augen haben in ihrem Leben schon genug Unglück gesehen. Kein Wunder, dass sie jetzt nicht mehr wollen.« Es klang verzweifelt. »Aber manchmal fehlen sie mir doch. Die Blicke, die Bilder. Manchmal würde ich gerne wieder sehen können. Den Sonnenaufgang. Oder dich, Lotte. Das, was du in deinem verflixten Ranzen ständig mit dir herumschleppst und hütest wie andere ihre Augäpfel.«
Lotte lachte. Sie musste ihm beschreiben, was alles in ihrem Ranzen war und wie es aussah. Als Lotte auf mich zu sprechen kam und sagte »Einen Nussknacker hab ich auch!«, entgegnete der Blinde: »Gib ihn mir mal!«
Er nahm mich in beide Hände und betastete vorsichtig meinen Körper. Seine Fingerkuppen strichen zärtlich über mich hinweg, als ob sie sich an mich erinnern und mich wiedererkennen würden. Dann sagte er: »Mensch, Lotte, das ist ja ein toller Kerl. Pass gut auf ihn auf,
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