Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert

Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert

Titel: Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sobo
Vom Netzwerk:
überschlug: »Der Krieg ist aus! Deutschland hat kapituliert!«
    Alle sprangen von ihren Sesseln und Stühlen auf und jubeltenund grölten wie beim Fußball. Sie hüpften im Zimmer herum, fielen einander um den Hals und lagen sich in den Armen. Männer küssten Frauen und umgekehrt. Und Frauen küssten Frauen. Ganz zum Schluss küssten die Männer auch noch die Männer. Es war ein heilloses Durcheinander. Es ging zu wie bei einem Kindergeburtstag. Der dicke Maler George kam sogar auf mich zugeschwankt, nahm mich von der Kommode und drückte mir einen feuchten Schmatz aufs Gesicht, dass ich von da an alles nur noch verschwommen sah.
    Nun brach das ausschweifendste Fest los, das ich bei den Donalds erleben durfte. So ausgelassen war noch nie gefeiert worden. Es wurde gelacht, dann vor Erleichterung geweint. Allen fiel ein Stein vom Herzen, so groß wie das zerbombte Europa. Viele schworen sich, von nun an alles in ihrer Macht Stehende zu unternehmen, damit sich so eine Katastrophe nie wieder ereignen konnte. Andere sprachen von einer Chance für die Zukunft, aus dem zerstörten Deutschland endlich einen Staat und eine Gesellschaft aufzubauen, in der Freiheit, Gerechtigkeit, Gleichheit und Menschenwürde zu den Grundpfeilern werden könnten. Wieder andere waren skeptisch, ob sich dieser Traum verwirklichen ließe.
    »Das liegt auch in unseren Händen!«, rief jemand feierlich.
    Einige packten daraufhin schon mal die Koffer und wollten mit dem nächsten Schiff in ihre verlassene Heimat zurück, während andere zu vorgerückter Stunde wehmütig und hart mit sich selbst ins Gericht gingen.
    »Und das Ergebnis von diesem Scheißkrieg?« George fragte es bitter und so, als wollte er von den noch Verbliebenen eigentlich gar keine Antwort, weil er selbst schon eine hatte. »Über fünfzig Millionen Menschen sind tot. Allein sechs MillionenJuden wurden von den Nazis ermordet. Das muss man sich mal vorstellen. Grauenvoll!«
    »Ond alles wäga dem Größenwahn von so ’nem laufenden Meter!«
    Es war zum Lachen und zum Weinen gleichzeitig.
    »Und kaum einer hat versucht, ihn daran zu hindern«, sagte George. »Alle haben versagt: Künstler, Professoren, Angestellte, Arbeiter, die Kirche, ein ganzes Volk. Grauenvoll.«
    Für mich schien sich noch immer nichts zu ändern. Ich stand nach wie vor auf der Kommode. Einzig George, der dicke deutsche Maler, nahm mich ab und an herunter. Er stellte mich auf den Tisch und fing an, mich zu zeichnen. Dabei sah er mich mit seinen stechenden Augen so durchdringend an, dass mir angst und bange wurde. Jedes Mal war ich heilfroh, wenn ich wieder auf der Kommode stand.
    * * *
    Deutschland hatte den Krieg verloren. Der Krieg war aber leider noch nicht ganz zu Ende, wie Mrs Donald an diesem Tag irrtümlicherweise verkündete. Erst am sechsten und neunten August 1945 wurde von den Amerikanern ein unrühmlicher Schlussstrich unter den Zweiten Weltkrieg gezogen.
    Im Wohnzimmer der Donalds stand der erst ein paar Tage zuvor angeschaffte neue Fernsehapparat. Was ich da sah, verschlug mir den Atem. Niemand war im Zimmer. Es war kurz nach acht Uhr morgens; der Fernseher zeigte fast lautlos Schwarz-weiß-Bilder. Ich war ganz alleine, stand auf der Kommode und starrte wie gebannt auf die bewegten Bilder. Plötzlich sah ich einen gigantischen Atompilz, der in die Höhe schoss, immer größer wurde und schließlich sogewaltig schien, dass das Allerschlimmste befürchtet werden musste.
    Es war sogar noch schlimmer. Die Amerikaner hatten die tödlichste Waffe, die je von Menschenhand geschaffen wurde, über der 300 000 Einwohner großen japanischen Industriestadt Hiroshima abgeworfen. Die Atombombe machte die Stadt dem Erdboden gleich und tötete auf einen Schlag 80 000 Menschen. Hunderttausende starben im Lauf der Jahre an atomarer Verseuchung. Ich stand auf der Kommode und war so traurig wie noch nie.
    Das schienen auch die Donalds irgendwann zu merken. Sie schickten mich nicht viel später in einem Paket für die Not leidende deutsche Bevölkerung als humanitäre Auf bauhilfe nach Deutschland zurück.
    Ich verschwand zusammen mit anderen Gegenständen in einer Schachtel. Es wurde dunkel. Die Reise begann  – dorthinzurück, wo ich herkam.
    Endlich.

1946 – 1948, Westsektor Berlin
    »Hier sind Pullover und Jacken! Ernst, brauchst du Ohrschützer?«
    »Was fragst du den denn? Der braucht keine Ohrschützer. Der braucht höchstens ein Hörgerät.«
    »WAS?«
    »Nix, Ernst, nix!«
    Hässliches Lachen. Es

Weitere Kostenlose Bücher