Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert
klang wie Pferdewiehern. Dennoch wusste ich, dass es zu den Männern gehörte, die um eine Pappschachtel herumstanden, in der ich eingepfercht lag, inmitten von Pullovern, Ohrschützern und Lebensmitteln.
»Was ist das denn?«, rief unvermittelt eine raue Stimme und lachte hell auf.
Ich bin das! , hätte ich sagen wollen. Ich, der Nussknacker.
»Was macht der denn hier?« Wieder Lachen, diesmal tief und dumpf.
Das weiß ich auch nicht , hätte ich antworten wollen, aber ichbrachte den Mund nicht auf. Ich starrte in ein ausgemergeltes Gesicht, in dem ein stacheliger Stoppelbart auf mangelnde Pflege hindeutete. Der Mund verzog sich. Wieder war lautes, hässliches Lachen zu hören.
»Ernst, hast du nicht ’ne Göre zu Hause? Hier, ihr neuer Freund!«
Jetzt lachten nicht nur der Stoppelbart, sondern auch alle anderen. Außer Ernst.
»WAS?«
»Hier, für deine Schwester!«
»Lotte spielt schon lange nicht mehr mit Puppen«, sagte Ernst so laut, dass ich mir am liebsten die Ohren zugehalten hätte. Die anderen blickten verdutzt.
»Ich dachte, der ist nur taub. Aber blind?«
»Das ist keine Puppe, Ernst. Das ist ein Nussknacker.«
»Hahaha!«, äffte jetzt Ernst ihr Lachen nach. »Ich bin ja nicht blind!«
»Blind nicht, aber blöd!«
Wieder lachten alle Stoppelbärte und zeigten dabei ihre kaputten Zähne. Nur Ernst schaute jetzt böse.
»War bloß ’n Scherz! Na los, nimm schon mit.«
Ich flog in hohem Bogen durch die Luft in die Arme von Ernst. Er hielt mich in der Hand und guckte aus der Wäsche, als wüsste er nicht genau, was das nun zu bedeuten hätte. Ernst sah komisch aus. Er trug eine Brille mit dicken Gläsern, die seine Augen so groß wie Apfelsinen aussehen ließen. Seine Haare waren feuerrot und standen verstrubbelt in alle Richtungen. Sein Gesicht war voller Sommersprossen und seine Nase so platt, als hätte er jahrelang Türen damit zugeschlagen.
»Puh!«, machte er schließlich und verzog dabei das Gesicht, als wollte er mich am liebsten gleich wieder loswerden. Sein Atem roch grauenerregend. Ich war froh, als er mich kopfüber in seine Jackentasche stopfte, sodass ich ihn von da an stundenlang nicht mehr sehen konnte. Und gottlob auch nicht mehr riechen.
* * *
»LOTTÄÄÄÄÄÄ!«
»Schrei doch nicht so.«
»Ich hab was für dich!«
»Du? Aber du hast doch noch nie …«
»Mach die Augen zu!«
»Was soll das, Ernst?«
»Na los, mach schon!«
Das Mädchen, das Lotte hieß und offenbar Ernsts Schwester war, schloss die Augen, die ähnlich groß waren wie die von Ernst. Aber ohne Brille. Ich hatte noch nie so große Augen gesehen. Dass die beiden Geschwister waren, erkannte man sofort. Auch Lotte hatte feuerrote Haare, die zu zwei Zöpfen geflochten waren. Ihr Gesicht war ebenfalls voller Sommersprossen. Nur ihre Nase war nicht breit und platt wie ’ne Flunder, sondern lugte klein und spitz aus dem Gesicht.
»Wo hast du den denn her?«
»Ist doch egal!«
»Sag schon!«
»Aus den Carepaketen!«
»Ich dachte, die Amis schicken nur Zeug, das man auch gebrauchen kann.«
»Nussknacker kann man doch auch gebrauchen!«
Lotte nahm mich in die Hand. Sie wiegte mich hin und her und sagte dann: »Aber keine kaputten!«
»Der ist doch nicht …«
»Klar ist er! Hier, er hat sogar ein riesiges Loch!«
»Egal, Lotte, das ist ein Geschenk, von mir für dich!«
Ernsts Augen sahen aus, als wäre jeder Widerspruch Lottes zwecklos.
»Was soll ich denn mit einem Nussknacker?«
Ernst hob die Schultern. Er schien es auch nicht genau zu wissen.
»Vielleicht verkaufen. Du verkaufst doch sonst immer alles.«
»Woher weißt du das?«
»Hab dich gesehen.«
»Wo?«
»unten am Hackeschen Markt!«
»Spionierst du mir etwa nach?«
Ernst schüttelte den Kopf. Ich wusste, es war gelogen.
»Ich warne dich! Wehe, du sagst Mama was davon!«
Ernst schüttelte noch energischer den Kopf. Lotte schaute böse. Zuerst auf Ernst, dann auf mich. Sie stellte mich auf den Kopf, drehte und wendete mich erneut, als könnte ich nicht nur keine Nüsse mehr knacken, sondern wäre auch ansonsten zu nichts mehr zu gebrauchen. Schließlich sagte sie: »So wie der aussieht, bringt der nicht viel.«
»Nicht viel ist besser als gar nichts!«, sagte Ernst.
Jetzt hob Lotte die Schultern.
Irgendwie war mir diese Lotte von Anfang an unsympathisch. Aber Ernst war nett. Viel lieber wäre ich bei ihm geblieben, trotz des fürchterlichen Mundgeruchs.
»Danke!«
Lotte steckte mich in einen alten Schulranzen, zu
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