Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert
der ist wertvoll.«
»Quatsch«, entgegnete Lotte. »So was kannst auch nur du sagen. Kein Wunder, du siehst ihn ja nicht.«
Blöde Kuh , dachte ich. Als ob sie meine Gedanken lesen könnte, verbannte Lotte mich wieder in den Ranzen. Und ging los.
»Bis morgen!«, rief der Blinde ihr nach.
Da waren Lotte und ich aber schon ums Eck gebogen.
* * *
Ein Stück weiter, in der Tauentzienstraße, blieb sie in den Häuserruinen stehen und rief dreimal: »Hans!«
Es dauerte nicht lange, da kam ein Mann auf einem Bein angehumpelt. Das andere fehlte vom Knie abwärts. Er war älter als der Blinde und ganz mager, mit einem ausgemergelten Gesicht. Auch seine Hose und Jacke sahen ziemlich mitgenommen aus. Er hatte glänzende blaue Augen wie Glasmurmeln und kaum noch Zähne im Mund. Wenn er sprach, klang es so komisch, dass ich mich zusammenreißen musste, um nicht ständig zu lachen.
»Und?«, fragte Lotte.
»Nichts!«, sagte Hans. »Aber ich hab ’ne Spur! Vielleicht morgen, vielleicht nächste Woche.«
Lotte steckte ihm drei Zigaretten zu.
»Oder niemals«, sagte sie verbittert.
»Du darfst nicht so ungeduldig sein.«
»Ich weiß!«, sagte Lotte. »Bis morgen!«
»Bis morgen!« Hans humpelte zurück in die Ruinen.
* * *
Einmal, als Lotte wieder einmal zwischen halb verfallenen Häusern, Fassadengerippen und Schutthaufen auf der Suche nach irgendetwas Brauchbarem herumstromerte, entdeckteihre Mutter sie, die wie immer zusammen mit anderen Frauen schuftete und Schubkarren vollschippte.
»Lotte, kannst du mal mit anpacken?«, rief sie ihrer Tochter über die Trümmerhaufen hinweg zu.
»Die ist ja noch ein Kind!«, sagte eine andere Trümmerfrau.
»Zum Arbeiten ist niemand zu jung!«, meinte wieder eine andere.
»Also, was ist jetzt?«, rief die Mutter.
»Keine Zeit. Muss Hausaufgaben machen.«
Noch ehe die Mutter oder eine der anderen Frauen etwas entgegnen konnte, war Lotte verschwunden.
Natürlich musste sie keine Hausaufgaben machen. Lotte ging nämlich gar nicht zur Schule. In ihrem Schulranzen steckte kein einziges Buch. Hefte auch nicht. Nur das, was sie gelegentlich auf ihren Entdeckungsreisen durch die Ruinen inmitten der Trümmer gefunden hatte. Eine Tasse, eine Puppe, der die Arme fehlten, ein alter Wecker, ein Brillengestell ohne Gläser, ein Armreif aus Perlmutt, ein Kerzenstummel, Streichhölzer, eine leere Geldbörse, eine Konservendose. Oder was sie geschenkt bekommen oder eingetauscht hatte. Kaugummis, Zigaretten, eine Kartoffel, ein Stück Schokolade, einen Apfel. Warum sie das ganze Zeug ständig mit sich herumschleppte und was sie damit vorhatte, war mir anfangs ein Rätsel.
»Das wirst du schon noch kapieren!«, sagte Lotte, als ich es ihr immer wieder zu verstehen gab, wenn sie einen mürrischen Blick in den Ranzen warf.
* * *
Manchmal fuhr Lotte auch wahllos mit der Ring-Bahn umher, die wie ein Reif um die Stadt führte und keine Endstationhatte. Berlin war jetzt in vier Sektoren eingeteilt. Es gab die amerikanische, die britische, die französische und die russische Zone, die jeweils vom amerikanischen, russischen, britischen oder französischen Militär kontrolliert und besetzt war. Mit der Ring-Bahn konnte Lotte für einen Groschen von einem Sektor in den anderen fahren, mit mir als blindem Passagier im Ranzen, bis sie schließlich wieder dort ankam, wo sie losgefahren war.
»Achtung, hier endet der amerikanische Sektor!«, sagte zwischendurch eine gequetschte Stimme durch den Lautsprecher.
Das war auch gut so, sonst hätten wir kaum einen unterschied zwischen den Sektoren bemerkt. Erst wenn wir ausstiegen, hatte ich jedes Mal das Gefühl, dass wir von den Menschen argwöhnisch wie Feinde beäugt wurden – und umgekehrt –, wenn wir zum Beispiel die britische Zone verließen und in der sowjetischen ankamen. Der Krieg war zu Ende; dennoch gab es offenbar überall noch Feinde.
An der Haltestation Wittenbergplatz tippte Lotte einem dunkelhäutigen Soldaten in Uniform, der an der Straße stand und rauchte, von hinten auf die Schulter. Der Soldat erschrak. Er drehte sich mit finsterem Gesicht nach ihr um. Doch als er das Mädchen mit den Sommersprossen und den langen roten Zöpfen vor sich sah, verschwand seine mürrische Miene. Er warf die Zigarettenkippe auf die Straße, trat sie aus und fragte, während er auf einem Kaugummi herumkaute: »What’s happen?«
»Brauchen Sie einen Nussknacker?«, fragte Lotte mit der freundlichsten Stimme, die sie zustande brachte. Dabei
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