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Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert

Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert

Titel: Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sobo
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aus Deutschland, hatte sich in der Nacht den Nachhauseweg sparen wollen. Oder er war, was ich eher vermutete, nicht mehr in der Lage gewesen, nach Hause zu gehen. Er lag seit Stunden verdreht auf dem Kanapee und röchelte ohrenbetäubend laut vor sich hin. Nicht weit vonihm entfernt saß in einem Ohrensessel ein dicker deutscher Dichter und schnarchte nicht weniger laut. Auch er hatte letzte Nacht, aus den bekannten Gründen, mit dem Sessel vorliebgenommen.
    »George! Aufwachen! Oskar! Stehen Sie auf! Attentat …«
    »Himmelherrgottsakramentkruzifix! Woas schrein’S denn so?«, murmelte Oskar verschlafen.
    »Attentat auf Hitler!«, rief Mr Donald, noch immer ganz aufgebracht, mit vibrierender Stimme.
    Oskar fuhr sich mit seiner Hand, die mindestens so groß war wie der größte Topfdeckel von Mrs Donald, mehrmals übers Gesicht. Er nahm einen abgestandenen Schluck aus einer Bierflasche und raunzte: »Hoatt’s den Deifi hoffentlich drwischt!«
    Es war ein eigenartiger Dialekt, der jetzt aus dem Mund Oskars ins Wohnzimmer purzelte, sodass von seinem mächtigen Bass auch George auf dem Kanapee langsam wach wurde.
    »Ist er tot?«, fragte George verschlafen.
    Mr Donald zuckte mit den Schultern.
    »In Hitlers Hauptquartier, der Wolfsschanze, ist eine Bombe hochgegangen. Es gab Tote. Anscheinend wollten ein paar hochrangige Militärs Hitler erledigen.«
    »Schön wär’s!«, sagte George und versuchte umständlich vom Kanapee aufzustehen.
    Während Oskar »Ab’r Jahre z’spät!« ins Wohnzimmer raunzte, bekam George jetzt erhebliche Schwierigkeiten mit dem Gleichgewicht. Er geriet ins Wanken, stützte sich an der Kommode ab und blickte mich mit großen Augen an, als sähe er mich zum ersten Mal.
    »Der kommt ja aus Bayern!«, sagte er verblüfft.
    »Quatsch. Der kümmt aus Braunau in Eschterreich!«, widersprach Oskar vehement und nahm einen weiteren Schluck vom abgestandenen Bier.
    »Nicht der Hitler, der hier!«
    George zeigte mit seinem dicken Zeigefinger auf mich. Alle drei sahen mich jetzt erstaunt an.
    »Na ond?«, raunzte Oskar wieder. »I o.«
    »Ich meine ja nur«, sagte George mürrischer als zuvor. »Ist schon komisch. Da fährt man um die halbe Welt, und die Nussknacker sind schon da.«
    »Woas? Woas hoißt denn die ? Die Nussknacker ? Also, i seh nur oanen.«
    »Einer ist immer der Erste!«
    »Oaner isch koaner, ab’r d’r isch halt d’r Schnellste.«
    »Hä?«
    Beide schienen sich gleich in die Haare kriegen zu wollen. Mr Donald wusste dies zu verhindern, indem er schnell und beschwingt »Das muss gefeiert werden, meine Herren!« dazwischenrief.
    Sogleich öffnete er eine Weinflasche, holte Gläser und stieß mit allen klirrend an.
    Schnell waren auch die anderen Emigranten wieder zusammengetrommelt. Es wurde ausgelassen gefeiert und diskutiert wie zuvor. Bis Mrs Donald plötzlich zur vorgerückten Stunde kreidebleich in die Feierlichkeit platzte und mit Leichenbittermine sagte: »Hitler hat überlebt!«
    »Nein!«, ging ein Aufschrei durch die Versammelten.
    »Himmelherrgottsakramentkruzifix!« Oskar warf sein Glas gegen die Wand. »Dös doarf net woar sein!«
    Jetzt waren natürlich alle enttäuscht, hoffnungslos und maßlos verzweifelt. Aus Enttäuschung wurde die ganze Nacht weitergetrunken. Bis wieder zwei mit dem Kanapee und dem Ohrensessel vorliebnehmen mussten und ich die ganze Nacht kein Auge zubekam.
    * * *
    Manchmal veranstaltete Mr Donald Hauskonzerte. Meist spielten einer oder mehrere der Exilanten. Es waren hervorragende Musiker darunter. Geiger, Pianisten, Cellisten. Bis vor dem Krieg gehörten sie allesamt zu den bedeutendsten Orchestern ihrer Länder und spielten in den schönsten und größten Konzerthäusern der Welt. Jetzt spielten sie zwar nur vor ein paar Leidensgenossen, aber ebenso schön und warmherzig. Dazwischen rezitierte immer wieder mal einer der Dichter ein selbst verfasstes Gedicht oder einen Auszug aus einem Theaterstück, das so schöne Titel besaß wie Mutter Courage oder Der Kreidekreis. Ich hoffte immer wieder  – zuerst inständig, dann wurde die Hoffnung jedoch geringer –, dass auch Salomon inmitten der Emigranten auftauchen, mich erkennen und wieder zu sich nehmen würde.
    Irgendwann ließ ich die Hoffnung sausen.
    * * *
    Ein gutes halbes Jahr und etliche Hauskonzerte und Dichterlesungen später, kam Mrs Donald wieder unvermittelt ins Wohnzimmer gestürzt. Dieses Mal ähnlich aufgeregt, aber heiter gestimmt. Sie rief, dass ihre Stimme sich beinahe

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