Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert
Männer waren tot oder verwundet oder befanden sich noch in Gefangenschaft. Oder sie waren spurlos verschwunden. Wie Lottes Vater.
Lange hielt Lotte es bei den Trümmerfrauen nicht aus. Plötzlich, aus heiterem Himmel, schrie sie wie am Spieß, hüpfte auf einem Bein herum und hielt mit den Händen den Fuß fest.
»Die markiert doch nur!«, rief ihre Mutter, als sie Lottes schmerzverzerrtes Gesicht sah, so laut, dass alle anderen es verstehen konnten. »Darin ist die ganz groß!«
Lotte schrie noch lauter.
»Schauspielerin!« Die Mutter dehnte das Wort, als wäre es ein chewing gum. »Die hat sich in den Kopf gesetzt, Schauspielerin zu werden.«
»Als ob das Leben nicht Tragödie genug ist!«, sagte eine andere Frau und stemmte die Hände wieder in die Hüften.
»Eine zweite Marlene Dietrich will die werden«, rief Lottes Mutter.
Mehrere Frauen lachten. Eine rief: »Vaterlandsverräterin!«
»Ich glaub, sie hat sich wirklich wehgetan.« Frau Taler, die Nachbarin, versuchte Lotte zu trösten, der jetzt dicke Tränen über die Wangen liefen.
»Dann soll sie sich hinsetzen und nicht im Weg rumstehen«, schimpfte eine der Frauen.
»Oder nach Hause gehen!«, ergänzte Lottes Mutter.
Als hätte sie nur darauf gewartet, nahm Lotte ihren Schulranzen und humpelte davon.
»Und nimm den Köter mit!«, rief wieder eine der Frauen. »Sonst scheißt er uns hier noch die Ziegelsteine voll!«
Lucky bellte und war mit Lotte und mir verschwunden, noch ehe die Frauen einen Stein nach ihm werfen konnten.
An der nächsten Straßenecke drehte Lotte sich um. Die Trümmerfrauen waren nicht mehr zu sehen. Sie wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und ging ganz normal weiter, ohne zu humpeln.
»Von dem ganzen Staub wird man ja krank!«, sagte sie. »Und wer will das schon?«
Sie wartete kurz, als ob sie eine Antwort von mir oder Lucky erwartete. Noch ehe ich etwas sagen oder Lucky bellen konnte, tippte sie sich an die Stirn.
»Ich nicht.«
* * *
»Sag mal, wer ist diese Marlene Dietrich?«, fragte Lotte ihren Großvater, der sich wieder ausgiebig über sein schmutziges Unterhemd strich. So lange, bis ein unerwarteter Glanz in den Augen des altes Mannes erschien.
»Die Dietrich! «, hauchte er verzückt.
Er schaute durch eines der Bullaugen auf den See hinausund fing leise an, vor sich hin zu singen: »Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt, und sonst gar nichts …«
Er strich sich über die Glatze. Dann streichelte er seinen langen Bart.
»Eine Diva! Ein Prachtweib!«
»Und eine Vaterlandsverräterin.«
»Blödsinn! Die hat keinen verraten. Nur dem Hitler hat sie eine lange Nase gezogen und Deutschland rechtzeitig den Rücken gekehrt!«
Offenbar alles eine Frage der Perspektive , dachte ich. Was für die einen böse ist, scheint für die anderen gut zu sein. Und umgekehrt.
»Wie Papa!«, sagte Lotte leise, wie für sich.
Ihr Opa nickte genauso leise. Ebenfalls wie für sich.
* * *
Die Ruinen waren jetzt alle weiß überzogen. Über Nacht hatte es geschneit. Es sah aus wie Zuckerguss. Die Temperaturen fielen bis weit unter null Grad. Es war bitterkalt. Vor Lottes Mund türmten sich bei jedem Ausatmen Dampfsäulen auf. Auch Lucky qualmte wie eine Lokomotive vor sich hin und zitterte, als steckte er mit seiner Schnauze in einer Steckdose fest. Lotte wollte trotzdem nicht zu Hause bleiben. Sie packte sich mit allem ein, was sie finden konnte – Schal, alte Militärjacke, löchrige Handschuhe –, und zog los.
Mindestens einmal die Woche holte sie ein paar Dosen und Suppenpackungen aus dem Bunker, damit es daheim überhaupt etwas zu Essen gab. Ihre Mutter, die seit Tagen krank im Bett lag, von Fieber geplagt, fragte schon lange nicht mehr, wo die Konservendosen, die plötzlich in der Küche über derSpüle standen, eigentlich herkämen. Auch sie schien froh zu sein, dass überhaupt etwas Essbares im Haus war.
Aber nicht nur der Hunger machte jetzt allen zu schaffen. Vor allem die Kälte setzte den Menschen zu. Kohlen und anderes Heizmaterial waren Mangelware. Die Leute froren sogar in ihren Wohnungen. Das Thermometer fiel bis auf zwanzig Grad unter Null. Aber auch diese niedrigen Temperaturen konnten Lotte nicht abschrecken. Eingepackt wie auf einer Polarreise, machte sie sich mal wieder auf zum Boot am See, der jetzt zugefroren war, um ihren Großvater zu besuchen.
»Opa!«
Dieses Mal war keine knarzende Stimme zu hören. Nachdem der Opa sich nach dem zehnten Rufen noch immer nicht gemeldet
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