Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert
fast schon abgebrannt war, machte sie sich aus dem Bunker davon.
Draußen vor dem Loch wartete artig der Hund. Als er Lotte sah, bellte er wie verrückt.
»Komm, wir gehen!«
* * *
»Was will dieser Köter hier?« Lottes Mutter schien von dem Hund nicht gerade begeistert zu sein.
»Der gehört mir.« Lotte hielt ihn in den Armen.
»Dir? Wir haben selbst kaum was zu essen. Jetzt soll ich auch noch dieses Mistvieh durchfüttern, was?« Die Mutter gab sich uneinsichtig.
»Den füttere ich schon selber!«
»Du? Womit denn?« Sie lachte gehässig. »Du arbeitest doch nicht. Und in die Schule gehst du auch nicht.«
»Woher willst du das wissen?« Lotte warf Ernst einen bösen Blick zu.
»Du willst mich wohl für dumm verkaufen, was? Das pfeifen doch die Spatzen von den Dächern! Aber damit ist jetzt Schluss. Ab morgen hilfst du beim Schuttwegräumen! Oder du kannst sehen, wo du bleibst, ist das klar?«
Lotte nickte geknickt und murmelte leise vor sich hin: »Wenn Papa noch da wäre, wäre alles anders.«
Ihre Mutter schaute Lotte ernst und mit verkniffener Mienean und sagte in einem frostigen Ton, dass mir beinahe der Speichel im Mund gefror: »Vergiss den! «
Immer wenn die Mutter von ihrem Mann sprach, Lottes Vater, sagte sie nur abfällig: Der! Warum, wusste Lotte nicht. Auf jeden Fall konnte sie sich kaum mehr an ihn erinnern.
» Der hat uns alle beinahe in den Schlamassel gezogen!«
»Aber warum?«, fragte Lotte kleinlaut.
»Das verstehst du nicht!«
»Ich will es aber verstehen!«, entgegnete sie, schon wieder etwas trotziger.
Die Mutter lachte abschätzig. »Wenn du größer bist, vielleicht.«
Es klang so, als ob Lotte nie größer werden würde. Oder zumindest nie groß genug dafür .
»Streitet doch nicht schon wieder«, mischte Ernst sich ein.
Ernst war groß genug, aber auch er wusste kaum etwas über seinen Vater. Wenn Lotte ihn mit Fragen löcherte, konnte er nur mit den Achseln zucken.
»Wo ist denn Papa?«, fragte sie, als die Mutter die Wohnung verließ, wobei sie die Tür hinter sich zuknallte.
»Weiß ich auch nicht. Mama sagt ja nichts.«
»Mama sagt ja nichts, Mama sagt ja nichts«, äffte Lotte ihn nach. »Das weiß ich selber! Aber du weißt doch irgendwas!«
Ernst schüttelte den Kopf. Doch als Lotte ihn weiterhin mit bösem Blick fixierte, sagte er schließlich, mehr aus Verlegenheit als aus freien Stücken: »Ich hab mal was gehört, kurz nachdem der Krieg vorbei war. Da hat Frau Taler Mama im Hausflur gefragt, ob ihrer jetzt auch wiederkäme. Aber ich weiß nicht, ob ich dir mehr sagen darf.«
»Du meinst, ob ich schon ›groß genug‹ dafür bin, was?«Ein spöttelnder unterton lag in Lottes Stimme. Dann sagte sie ähnlich frostig wie zuvor ihre Mutter: »Ernst! Sag schon!«
»Hoffentlich kommt er nie wieder, hat sie gesagt.«
»Und Frau Taler? Was hat die darauf entgegnet?«
»Sie hat gesagt: Aus Sachsenhausen kommen die auch nicht mehr zurück.«
Lotte runzelte die Stirn. »Sachsenhausen? Wo ist das denn?«
»Keine Ahnung.«
»Lüg nicht, Ernst!« Wieder wurde Lottes Stimme frostig. »Du weißt es ganz genau!«
»Nein, ich weiß nur, dass es ein KZ war.«
»Ein KZ?«
»Ja. Da kamen die Leute hin, die gegen den Hitler waren.«
»Dann war Papa gegen den Hitler?«
»Glaub schon.«
»Und Mama?«
»Keine Ahnung.«
»Das ist mal wieder typisch.«
Ob Lotte Ernst oder ihre Mutter meinte, war nicht klar. Vermutlich beide.
* * *
Am nächsten Tag schuftete Lotte tatsächlich mit ihrer Mutter und ungefähr dreißig anderen Frauen in den Ruinen. Ihr Hund, den sie Lucky nannte wie die amerikanischen Zigaretten, saß die ganze Zeit neben ihrem Schulranzen und mir und sah aufmerksam zu.
»Na, der hat’s aber gut«, rief eine der Frauen spöttisch, als sie mit einer Schubkarre an uns vorbeifuhr.
»Ja, sitzen dumm rum und sind zu nichts zu gebrauchen!«,fügte eine andere Trümmerfrau zornig hinzu, als wäre der Hund an der ganzen Misere schuld.
»Wie alle Männer!«, rief eine dritte, während die anderen die Hände in die Hüften stemmten und gehässig lachten.
Sehr witzig , dachte ich. Aber in Zeiten, in denen es offenbar kaum etwas zu lachen gab, war man für jede kleine Aufheiterung dankbar. Ich betrachtete die Frauen in ihren groben Röcken und Kitteln. Erst jetzt fiel mir auf, dass in den Ruinen, inmitten des Schutts, tatsächlich kein einziger Mann Ziegelsteine klopfte. Es waren alles Frauen. Junge und alte, Großmütter, Mütter und Töchter.
Viele der
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