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Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert

Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert

Titel: Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sobo
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hatte, sprang Lotte über die Reling hinweg. Die Tür zur Kajüte war auf. Der Opa war nicht da. Ein wenig aufwärmen , dachte sie und setzte sich an den Tisch neben den kleinen Kohleofen, der wohlige Wärme abstrahlte. In der Kiste mit den Briketts, den Holzscheiten und dem Anzündpapier schauten unter den Bogen Zeitungspapier ein paar vergilbte Fotos hervor. Lotte nahm den Packen aus der Kiste und legte die Bilder auf dem Tisch aus. Es waren alles Schwarz-Weiß-Fotos. Auf manchen waren tanzende junge Leute zu sehen. Auf einem anderen ein Moped, auf dem ein Mann mit langem Bart saß.
    »Opa als junger Bursche!«, murmelte Lotte. »Aber mit Haaren und fast genauso langem Bart wie jetzt.«
    Sie schmunzelte. Dann entdeckte sie ein Foto, das sie teilweise schon kannte. Es stand bei ihr zu Hause auf dem Nachttisch im kleinen Zimmer und zeigte ihre Mutter in einem Hochzeitskleid. Aber dieses Foto hier war größer. Auf diesemBild war neben Lottes Mutter ein Mann zu sehen. Er war jung, hatte viele Sommersprossen im Gesicht und lachte.
    Lotte steckte das Foto in den Schulranzen und legte die anderen wieder zurück in die Kiste. Dann verließ sie die Kajüte, rief noch ein paar Mal vergebens nach ihrem Opa und fuhr mit der Bahn zurück in die Stadt.
    * * *
    Als wir wieder zu Hause waren, stand ein fremder Mann in der Wohnung.
    »Dr. Kohlmetz!«, sagte Ernst. »Mama geht es ganz schlecht.«
    Der Arzt sah besorgt aus. »Eure Mutter braucht jetzt viel Ruhe. Sie hat eine schwere Grippe. Damit ist nicht zu spaßen.«
    Als Ernst, Lotte und der Doktor ohne die Mutter in der Küche waren, sagte er zu Ernst – so leise, dass niemand anders es hören sollte: »Die Kälte setzt allen zu. Mittlerweile gibt es jeden Tag tausend Tote. Also pass gut auf sie auf. Sie muss viel trinken und die Medikamente nehmen, die ich auf den Nachttisch gelegt habe. Wenn es schlechter werden sollte, ruf mich.«
    Damit verließ der Doktor die Wohnung. Lotte schlug ihr Nachtquartier auf dem Boden in der Küche auf.
    Vier Wochen lag Lottes Mutter im Bett, bis es ihr wieder ein wenig besser ging. Nach weiteren vier Wochen war sie fast wieder ganz hergestellt. Sie ging wieder zu den Trümmerfrauen, und Lotte rollte die Teppiche und Decken auf dem Boden in der Küche wieder ein.
    * * *
    Im Radio wurde berichtet, dass das Deutsche Rote Kreuz einen Suchdienst eingerichtet hätte. Jeder, der jemanden vermisste,konnte sich melden: Frauen, deren Männer noch nicht aus dem Krieg zurück waren. Mütter, die ihre Söhne in Gefangenschaft wähnten. Oder Mütter, die auf der Flucht ihre Kinder verloren hatten.
    »Alle können sich bei uns melden«, sagte eine Männerstimme aus dem kleinen Volksempfänger, den Lotte irgendwo aus den Trümmern gefischt hatte und der jetzt in der Küche neben dem Fenster stand.
    »Und Kinder, die ihre Väter vermissen?«, murmelte Lotte.
    »Vergiss es!« Die Mutter würgte die Stimme ab und schaltete den Volksempfänger aus.
    Na, wenigstens ist sie wieder ganz gesund , dachte ich.
    Lottes Gedanken an den Suchdienst blieben. Lange brauchte sie nicht, um herauszufinden, wo das DRK saß. Es dauerte auch nicht lange, bis sie in dieser Straße war und in einem barackenartigen Gebäude einem freundlichen älteren Herrn an einem aus Brettern zusammengenagelten Tresen gegenüberstand.
    »Kann ich dir helfen?«
    »Vielleicht.«
    »Na, dann schieß mal los. Wen suchst du?«
    »Meinen Vater.«
    Lotte legte das Foto aus der Kiste auf den Tresen und zeigte auf den Mann neben ihrer Mutter.
    »Wie heißt denn dein Vater?«
    »Wie ich.«
    »Und wie heißt du?«
    »Lotte Wagner.«
    Der Mann lächelte. Er rückte seine Brille zurecht und sagte: »Lotte heißt dein Vater aber wohl kaum.«
    »Nein, Werner.«
    »Und weißt du auch, seit wann er nicht mehr da ist?«
    Lotte hob die Schultern. »Ein paar Jahre. Ich war noch ganz klein.«
    Wieder schob der Mann seine Brille zurecht, die ihm ständig die Nase entlangrutschte.
    »Ich glaube«, sagte Lotte, »Papa ist ins KZ gekommen, nach Sachsenhausen.«
    »Und deine Mutter vermisst ihn nicht?«
    »Nein, nur ich.«
    »Hm.«
    Lucky bellte. Der Mann beugte sich über den Tresen, sodass seine Brille beinahe über die Nase hinwegsegelte, schob sie zurück und sagte: »Hunde sind hier nicht erlaubt.«
    »Das ist kein Hund«, entgegnete Lotte. »Das ist Lucky!«
    Wieder lächelte der Mann.
    »Du willst deinen Vater also zurückhaben.«
    »Klar.«
    »Und deine Mutter?«
    »Nicht.«
    »Ich werde mal schauen, was sich

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