Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert
euch doch, dich, die Familie, die Kinder.«
»Aber wir brauchen dich nicht mehr. Verschwinde endlich! Verschwinde aus unserem Leben. Für immer.«
»Nein, Hilde, nein, bitte!«
Der Mann klang weinerlich. Die Mutter gab sich uneinsichtig. Ihre Stimme war jetzt frostig.
»Ich wünschte, du würdest da bleiben, von wo du kommst.«
»Hilde, das darfst du nicht sagen. Es war die Hölle.«
»Meinetwegen. Hier ist auf jeden Fall kein Platz mehr für dich. Nie mehr!«
Die Wohnungstür schlug mit einem lauten Knall zu. Kurzes, zaghaftes Klopfen war noch zu hören. Drei-, viermal. Dann nichts mehr. Lotte sprang vom Bett auf.
»Was ist denn?«, fragte Ernst verschlafen auf dem Feldbett.
»Nichts!«
Lotte hastete zum Fenster, zog die löchrigen Stofffetzen zur Seite, die nur unzureichend die Morgendämmerung aus dem Zimmer verbannten, und schaute hinaus. Während ihr Blick noch auf der Straße war, sprang sie hastig in ihre Kleider. Dann nahm sie den Ranzen und rannte in die Küche.
»Wo willst du hin?« Ihre Mutter saß mit verheultem Gesicht am Tisch.
»Lucky, komm!«
Ohne ihrer Mutter zu antworten, war Lotte mit Lucky schon im Hausflur, knallte die Tür zu und rannte die Treppe hinunter, wobei sie jedes Mal mehrere Stufen auf einmal nahm.
Vor dem Haus suchte sie fieberhaft die Straße ab. »Wo ist er, wo ist er bloß?«, murmelte sie aufgeregt. »Na los, Lucky, such!«
Lucky sah sie an, als hätte er keine Ahnung, wen oder was er suchen sollte.
»Haben Sie einen Mann mit roten Haaren und Rucksack gesehen, der leicht hinkt?«, fragte Lotte eine alte Frau, die gerade vorüberkam, mit zwei Taschen bepackt.
»Der ist da runter!« Die Alte setzte die Taschen ab und zeigte die Budapester Straße entlang.
»Er geht zum Bahnhof!«, murmelte Lotte vor sich hin.
Die Frau hob die Schultern, nahm die Taschen wieder auf und ging weiter.
In der Budapester Straße waren zu dieser Morgenstunde erstaunlich viele Leute unterwegs. Manche standen aber auch nur herum oder bückten sich nach Zigarettenkippen. Andere gingen hastig und gekrümmt vorüber oder zogen Leiterwagen hinter sich her. Wenn Lotte nach dem hinkenden Mann mit den roten Haaren fragte, schüttelten alle den Kopf.
Einer sagte: »Hier hinken doch alle, wenn sie überhaupt noch zwei Beine haben.«
»Vorne an der Kurfürstenstraße kam mir so einer entgegen«, sagte eine junge Frau, die einen dick eingewickelten Säugling an der Brust hielt.
»An der Kurfürstenstraße?«
»Sag ich doch!«
»Also doch zum Bahnhof !« Lotte stürmte los. Immer schneller, immer entschlossener. Dabei rannte sie die entgegenkommenden Passanten beinahe über den Haufen.
Außer Atem kam sie am Bahnhof Zoo an. Dort herrschte ein wuseliges Treiben. Überall waren Menschen zu sehen.Sie stiegen in Züge oder standen an den Fahrkartenschaltern Schlange.
»So finde ich ihn nie!« Lotte lief von Gleis zu Gleis auf der Suche nach dem hinkenden Mann mit den roten Haaren.
Lotte, da ist er! , wollte ich sagen. Da vorn, Lotte! Er steigt in den Zug!
»Mensch, pass doch auf«, rief Lotte, als sie mit einem Mann zusammenstieß. Wütend drehte sie sich um und starrte ihm hinterher. Dabei schaute sie in die Richtung, in der ich aus dem Ranzen guckte.
»Da ist er!«, kam es wie benommen aus ihrem Mund. »Er steigt in den Zug! Nach Cottbus!« Sie schaute auf die große Bahnhofsuhr. »Noch drei Minuten!«
So schnell sie konnte, rannte sie zum Fahrkartenschalter.
»He, was soll das!«, waren hinter uns vereinzelte Stimmen zu hören, die sich über die Dränglerin beschwerten. »Hinten anstellen!«
»Es ist dringend!«, sagte Lotte. »Ich brauche eine Fahrkarte nach Cottbus.«
»Wir brauchen alle Fahrkarten!«, hörten wir hinter uns.
Der Schalterbeamte blickte verdutzt drein. Lucky bellte.
»Eins fünfzig!«
Lotte kramte in ihren Taschen.
»Mist, ich habe nur noch sechs Groschen.«
»Für sechs Groschen kommst du nicht weit, mein Kind.«
»Schon gar nicht nach Cottbus!«, sagte ein Mann schadenfroh von etwas weiter hinten.
»Aber ich muss doch nach Cottbus! Mein Vater fährt auch dorthin! Ich hab seit Jahren nicht mehr mit ihm gesprochen. Jetzt erst habe ich ihn entdeckt, aus Zufall …«
»Hier sind neun Groschen«, platzte eine Frau in Lottes verzweifelten Redeschwall und schob das Geld unter dem Schalter hindurch.
An der Hand der Frau zog ein quengelndes Mädchen, das Lotte mit großen Augen anblickte, als käme sie geradewegs vom Mond.
Lotte sah die Frau verwundert an. Dann
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