Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert
machen lässt.« Er notierte sich etwas auf einem kleinen Zettel. »Komm in ein paar Wochen noch mal vorbei.«
In ein paar Wochen , dachte ich. Ganz schön lange.
»Ganz schön lange!«, sagte Lotte, als sie wieder auf der Straße stand. »Aber jetzt habe ich schon Jahre auf ihn gewartet, da kommt es auf ein paar Wochen auch nicht mehr an.«
Lucky bellte wieder und sprang freudig an Lottes Beinen hoch.
* * *
»Jetzt versuchen die Russen uns auszuhungern!«
»Das werden sie nicht schaffen!«
»Die Amis lassen uns nicht im Stich. Seit heute fliegen Rosinenbomber und bringen alles, was wir brauchen.«
»Aber wie lange?«
»So lange wie nötig.«
»Aber die Amis können doch keine ganze Stadt aus der Luft versorgen?«
»Wirst schon sehen!«
»Glaubst du?«
»Klar!«
Und tatsächlich, nachdem 1948 die West-Alliierten in ihren Besatzungszonen die D-Mark eingeführt hatten, zogen die Sowjets drei Tage später in ihrer Zone mit der Währungsreform nach. Allerdings wollten sie ihr neues Zahlungsmittel als Währung für ganz Berlin. Als die Westsektoren nicht mitspielten, sperrten die Sowjets die Zufahrtswege. Zu Land und zu Wasser ging nichts mehr. Die Versorgungswege nach Westberlin waren abgeschnitten. Es blieb nur noch die Möglichkeit, die Westberliner auf dem Luftweg mit Lebensmitteln und Waren zu versorgen.
Wir – Ernst, Lotte und ich – waren am Flughafen Tempelhof und schauten staunend zu, wie die amerikanischen Flugzeuge alle zwei bis drei Minuten landeten und das Lebensnotwendige nach Westberlin brachten.
»Jetzt kannst du deine Ring-Bahn-Fahrten auch vergessen«, sagte Ernst, als ein Rosinenbomber sicher aufsetzte und schon der nächste im Anflug war.
»Woher weißt du, dass ich …« Lotte stotterte verlegen.
»Auch wenn ich vielleicht ein bisschen schwerhörig bin«, unterbrach Ernst sie, »Und mit meiner dicken Brille nicht gut sehen kann, bin ich noch lange nicht blöd.«
»Du spionierst mir nach, Ernst!«, sagte Lotte bestürzt.
»Manchmal kreuzen sich unsere Wege, ohne dass du es merkst.«
»So kann man das natürlich auch nennen«, empörte sich Lotte. »Und dann petzt du es der Mama, was?«
Ernst schüttelte vehement den Kopf.
»Und das mit dem Bunker …«
»… weiß ich auch.«
»Nein!«
»Doch. Aber damit ist es jetzt ja auch vorbei.«
»Schade.«
»Ja.«
Wir schauten noch ein wenig den landenden Flugzeugen zu, bis es allmählich dunkel wurde. Dann machten wir uns auf den Heimweg.
* * *
»Was willst du denn hier? Nach all den Jahren! Nach dem, was du uns angetan hast!«
Lotte schreckte hoch. Ich auch. Sie lag alleine im schmalen Bett. Da, wo die Mutter kurze Zeit vorher gelegen hatte, war es noch warm. Ernst schlief schwer atmend auf seinem Feldbett. Draußen vor dem Fenster dämmerte es bereits. Wir hörten Stimmen. Es war die Stimme der Mutter, die leise zu sprechen versuchte, aber gut zu verstehen war. Dann war da noch eine weitere Stimme zu hören.
»Aber Hilde, da kann ich doch nichts dafür.« Es war eine Männerstimme, brüchig und viel leiser als die der Mutter.
»So, wer denn dann? Ich vielleicht? Wer hat dich denn gezwungen, diese blöden Flugblätter zu verteilen?«
Lotte war plötzlich hellwach. Sie richtete sich im Bett auf und spitzte die Ohren. Ich auch.
»Niemand hat mich gezwungen.«
»Na also. Bist selber schuld.«
»Hilde, ich hatte keine andere Wahl. Es war einfach notwendig.«
»Notwendig, notwendig, notwendig!«, äffte die Mutter die Männerstimme nach. »Für dich vielleicht. Für uns war es eine Katastrophe. Die ganzen Verhöre, die Verdächtigungen, die Beschuldigungen im Haus, auf der Straße, die Gestapo … alles.«
»Ich weiß ja, Hilde.«
»Nichts weißt du!«
Es klang vorwurfsvoll und bitter.
»Ich weiß mehr, als dir vielleicht lieb ist«, sagte der Mann, dessen Stimme jetzt fester wurde. »Was glaubst du denn, was mir bei denen alles widerfahren ist? Folter, Zwangsarbeit, Schläge.«
»Du bist selber schuld.«
»Nein, nicht ich, die Nazis!«
»Nicht so laut, Werner.«
Doch der Mann ließ sich nicht beirren. Er sprach noch lauter als zuvor, sodass die Stimme deutlich zu hören war.
»Doch, so laut wie’s geht! Jetzt darf man es wenigstens wieder sagen. Hätten wir damals auch das Maul aufgemacht, wäre uns einiges erspart geblieben.«
» Du hättest uns erspart bleiben sollen! Du!« Lottes Mutter klang noch ärgerlicher.
»Hilde, sag so etwas nicht.« Wieder schlug die Männerstimme ins Brüchige um. »Ich brauche
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