Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert
Fred immer alles gemeinsam machten.
Ich sah Karl an, wie er alles, was in der letzten Zeit vorgefallen war, im Schnelldurchlauf durch seinen Kopf rattern ließ. Auch Fred schien in Lichtgeschwindigkeit alles zu durchdenken. Dann verließ Karl an der Seite der Oberin das Klassenzimmer. Fred schaute ihm bedrückt hinterher.
Nach dem unterricht rannte er in ihr gemeinsames Zimmer, so schnell er konnte. Als Karl dort nicht aufzutreiben war, irrte er auf der Suche nach seinem Freund durch das ganze Heim, doch Karl blieb verschwunden.
Am Nachmittag wartete er in Spints Scheune. Auch da tauchte Karl nicht auf. Als Fred den Rückzug antreten wollte, entdeckte er am Hasenstall einen karierten Zettel, der an ein Brett genagelt war. Auf dem Papierfetzen stand:
Komm zum Lohwieseweg 3, warte hinter der Hecke um Mitternacht! Karl.
Was hat das denn zu bedeuten? , fragte nicht nur ich mich, das fragte sich mit besorgter Miene auch Fred. Natürlich dachte er an den ollen Geyer, und dass es nicht einfach sein würde, in der Nacht aus dem Heim zu entkommen. Aber jetzt hatte er keine Wahl. Jetzt ging es nicht mehr um irgendwelche leichten Mädchen. Es ging um seinen Freund. Ihm blieb nichts anderes übrig. Er musste es riskieren. Karl zuliebe.
* * *
Fred lag bis halb zwölf wach. Er hörte, wie die anderen Jungs im Schlafraum röchelten. Einer sprach leise im Schlaf. Fred stand auf und zog Hemd und Hose an, so leise es ging. Die Schuhe nahm er in die Hand. Auch ich musste mit. Fred steckte mich vorne in den Hosenbund. Dann öffnete er die Tür und schlich auf den Flur.
Es war dunkel. Niemand war zu sehen. Bestimmt schliefen die Schwestern auch schon. Nur von unten fiel ein kleiner Lichtschimmer auf die Treppe. Es war das Licht aus Geyers Kabuff. Fred öffnete das Flurfenster im ersten Stock, so leise es ging. Es quietschte. Er verharrte und wartete, ob sich im Erdgeschoss etwas rührte. Als nichts zu hören war, warf er seine Schuhe aus dem Fenster. Dann kletterte er auf den Fenstersims und zog den Fensterflügel bis auf einen kleinen Spalt hinter sich zu. Er schwitzte. Ich schwitzte auch.
Vorsichtig hangelte Fred sich am Dachrinnenrohr entlang nach unten. Auf dem Boden angekommen, schlüpfte er in seine Schuhe und schlich sich an der Hauswand entlang zur Vorderseite des Kinderheims. Er spähte um die Ecke und verharrte.
Geyer! Der Hausmeister trat gerade aus dem Haus. Ersteckte sich eine Zigarette an und setzte sich langsam in Bewegung.
Mist, der kommt genau auf uns zu , dachte ich. Fred schien dasselbe zu denken. Nichts wie weg! Aber wohin?
Fred schlich zurück in den Garten. Da stand … das Plumpsklo!
Ohne lange zu überlegen, öffnete er die Tür und schlüpfte hinein. Er setzte sich auf den Donnerbalken und schloss die Tür hinter sich. Fred zitterte und atmete doppelt so schnell wie normal. Er lugte durch das Loch in der Tür, das die Form eines Herzens besaß, nach draußen. Der olle Geyer bog ums Eck und kam in den Garten.
Wenn der jetzt aufs Klo muss, ist alles aus! , schoss es mir durch den Kopf.
Geyer kam langsam auf das Klohäuschen zu. Er zog an seiner Zigarette, sodass die Glut wie ein Glühwürmchen leuchtete. Fred brach der Schweiß aus, und er zitterte noch mehr. Auch mir war nicht wohl bei der ganzen Sache.
Dicht vor der Tür blieb Geyer stehen, drehte sich nach links und war nicht mehr zu sehen. Dafür hörten wir ein erleichtertes, tiefes Stöhnen. Dann einen peitschenden Wasserstrahl.
Ich werd verrückt , dachte ich, der pinkelt in das Beet mit den Salatköpfen!
Fred verzog angewidert das Gesicht.
Nachdem der Wasserstrahl versiegt war, hörten wir erneut ein erleichtertes Stöhnen. Dann rülpste der olle Geyer und machte sich auf den Weg zurück ins Haus.
Fred atmete auf. Der Schweiß stand ihm auf der Stirn und im Gesicht, dass es glänzte.
Als Geyer im ausgeschnittenen Herzen der Tür nicht mehrzu sehen war, verließen wir das Klohäuschen und machten uns davon.
Fred rannte die Straße Richtung Bahnhof entlang. Niemand war zu sehen. Der Bahnhof war geschlossen und lag im Dunkeln. In der Barackensiedlung brannte kaum mehr ein Licht.
Fred setzte sich hinter die Hecke gegenüber vom Haus im Lohwiesenweg 3 – das heißt, ein Haus war es eigentlich nicht. Im Lohwiesenweg gab es keine Häuser, nur Hütten. Es war die Barackensiedlung mit den Flüchtlingsunterkünften, um die sie immer einen großen Bogen gemacht hatten.
»Bleibt weg von den Baracken!«, sagten die Schwestern im Heim unter
Weitere Kostenlose Bücher