Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert
Androhung von Strafen. »Mit denen wollen wir nichts zu tun haben.«
Wer »die« waren, erfuhren die Kinder nicht. Ihre zögerlichen Fragen beantworteten die Schwestern nur mit abweisenden Handbewegungen. Natürlich wollten die mutigsten Kinder jetzt erst recht herausfinden, was es mit »denen« auf sich hatte, und schlichen in die Barackensiedlung. Sie kamen mit blauen Augen und aufgeschlagenen Lippen wieder zurück. Seitdem mieden alle, auch die Mutigsten, das Barackenviertel.
Fred kauerte noch immer hinter der Hecke. Ihm war ziemlich unheimlich zumute. Er ließ Baracke Nummer drei, in der kein Licht mehr brannte, keine Sekunde aus den Augen. Viel konnte er durch das Gestrüpp hindurch allerdings nicht erkennen. Bis auf das Licht des beinahe vollen Mondes, das alles in einen düsteren, unheimlichen Schimmer tauchte, war die gesamte Barackensiedlung fast dunkel. Nur in wenigen Fenstern flackerte noch vereinzelt Licht. Es war kalt und rochwie immer nach Steinkohle. Ab dem Herbst roch es in Berkum eigentlich jeden Tag nach Steinkohle. Nur am Waschtag roch es kurzzeitig nach Seifenlauge. Mittlerweile hatte ich mich an den Geruch gewöhnt. Auch an die Aschestaubschicht, die von Oktober bis April alles und jeden mit einem feinen grauen Firnis überzog.
Fred hustete und drückte die Hand vor den Mund, um das Geräusch zu unterdrücken. Immer noch keine Spur von Karl. Dafür fuhr ein Mann auf einem viel zu kleinen Fahrrad in Schlangenlinien an uns vorbei. Er stellte das Rad am Haus Nummer sechs ab, verschwand in einer der Baracken und knallte laut die Tür hinter sich zu.
»Pssst!«
Fred stutzte, als er die Stimme hörte. Er sah nichts.
»Danke!«, sagte die Stimme.
Fred erschrak, als plötzlich Karl neben ihm hockte. »Danke, dass du gekommen bist!«
»Wo kommst du denn her?«
Karl zeigte auf das gegenüberliegende Haus. »Aus dem Fenster auf der Rückseite.«
Die beiden klatschten sich ab, wie sie es immer taten.
»Was machst du eigentlich da?« Fred zeigte auf das Haus gegenüber.
»Da wohne ich jetzt.«
»Was?«
»Mein Vater ist zurück.«
»Dein Vater? Ich dachte, du hast keinen, so wie ich.«
»Dachte ich bis gestern auch. Jetzt ist er aus der Gefangenschaft zurück.«
Fred wusste nicht, ob er sich für Karl freuen oder traurigsein sollte, weil ihre Wege sich nun wohl oder übel trennen würden. »Wo ist er jetzt?«
»Er schläft. Gott sei Dank.«
»Warum Gott sei Dank?«
»Es ist grauenvoll! So hab ich mir das nicht vorgestellt.«
»Was denn?«
»Der redet fast nichts.«
»Aber Spint redet doch auch …«
»Nee, ganz anders.«
»Wie, ganz anders?«
»Er schaut mich immer an, als hätte er was gegen mich.«
»Quatsch, das bildest du dir nur ein.«
»Nein. Er ist mir unheimlich. Er liegt den ganzen Tag auf dem Sofa, säuft, beobachtet mich und brüllt herum. Und ich muss schuften.«
Karl öffnete sein Hemd und zeigte seinen rechten Oberarm, der blauviolett schimmerte.
»Und wenn ich nicht tue, was er sagt, schlägt er zu.«
»Verdammt.«
»Das kannst du wohl sagen.«
»Und jetzt?«
»Weiß nicht. Abwarten.«
»Oder weglaufen.«
»Du meinst wegfahren.«
Fred schmunzelte.
»Mit den Fahrrädern von Spint?«
Fred nickte.
»Aber die sind noch nicht ganz fertig.«
»Noch nicht«, sagte Fred. »Aber ich verspreche dir, ich leg mich ins Zeug. Spätestens in einer Woche …«
»Das schaffst du doch gar nicht alleine.«
»Klar!«
»Ich kann dir nicht helfen. Ich kann nicht mal weg, sonst schlägt er mich tot.«
»Und wenn Spint mir hilft?«
Karl hob ernüchternd die Arme und ließ sie dann kraftlos wieder sinken.
Beide saßen zusammengekauert hinter der Hecke und schwiegen eine Weile.
»Fred?«
»Ja?«
»Fährst du alleine nach Bern?«
»Spinnst du? Nie!«
»Du kannst ja Maya mitnehmen!«
»Quatsch!«
»Aber du musst nach Bern.«
»Du auch!«
»Ich kann nicht.«
»Beide oder keiner.«
Karl seufzte.
»He, lass den Kopf nicht hängen. Wir schaffen das schon. Bis zum Endspiel ist es noch ein halbes Jahr.«
Fred legte den Arm um Karls Schulter.
»Du weißt doch, es ist noch längst nicht aller Tage Abend.«
»Ja, ich weiß. Und was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen.«
Fred nickte und sagte verschmitzt: »Und Morgenstund hat Gold im Mund.«
»Ja, ja, und Eile mit Weile«, ergänzte Karl.
»Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben!«, sagte Fred.
So hätte das noch eine ganze Weile weitergehen können, hätte Karl nicht mit »Scheiß
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