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Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert

Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert

Titel: Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sobo
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Sprichwörter!« die Aufzählung beendet.
    »Egal«, sagte Fred. »Jedenfalls sagt Spint immer, dass man auf keinen Fall die Hoffnung aufgeben darf.« Karl hob die Arme, und Fred fügte hinzu: »Ich glaube, er hat recht.«
    Dann schwiegen sie wieder eine Zeit lang.
    »Fred?«
    »Ja?«
    »Du darfst jetzt nicht lachen, aber manchmal denke ich, dass unser Leben ganz schön beschissen ist.«
    Fred lachte nicht. Er blickte mit demselben Gesichtsausdruck vor sich hin wie Karl.
    »Hm, weiß nicht, aber es gibt doch auch ganz schöne Seiten«, sagte er schließlich.
    »Findest du? Was denn?«
    Fred dachte nach. Karl schien es zu lange zu dauern, sodass er dazwischenfragte: »Hast du ’ne Ahnung, was Glück ist?«
    Wieder dachte Fred lange nach, ehe er antwortete: »Wenn der olle Geyer dich nicht erwischt.« Dabei schnalzte der Daumen aus seiner Faust.
    »Wenn Maya dich küsst!« Der Zeigefinger.
    »Wenn Spint aus seinem Leben erzählt!« Der Mittelfinger.
    »Wenn die Schwestern dich in Ruhe lassen!« Der Ringfinger.
    »Wenn wir Freunde bleiben!« Der kleine Finger.
    Karl hakte sich mit seinem kleinen Finger ein und ergänzte: »Und wenn wir beide endlich hier wegkommen!«
    Beide nickten, entschlossen wie selten.
    »Ich muss los. Wenn er aufwacht, und ich bin nicht da …«
    Karl stand auf, dass seine Knie knackten.
    »Sehen wir uns wieder?«, fragte Fred.
    »Bestimmt. Ich weiß zwar noch nicht wann, aber …« Karl stockte. »Kümmerst du dich um die Hasen, Fred?«
    »Klar.«
    »Ich geh dann mal …«
    »Karl?«
    »Ja?«
    »Hier, für dich.«
    Fred zog mich aus dem Hosenbund.
    »Danke.«
    »Wir sehen uns.«
    »Klar.«
    »Wird schon gut werden.«
    »Klar.«
    »Tschüss.«
    »Tschüss.«
    »Pass auf dich auf.«
    »Du auch.«
    »Und wenn’s nicht mehr geht, komm vorbei, dann hauen wir ab.«
    »Ja.«
    Karl stand an der Baracke und winkte Fred zu, der gebückt den Lohwiesenweg entlangrannte.
    * * *
    Bei Karl zu Hause im Lohwiesenweg war es sogar noch schlimmer, als ich es mir vorstellen konnte. Karls Vater lag fast den ganzen Tag auf dem Sofa und schaute grimmig. Wenn er den Mund aufmachte, brüllte er, dass die Wände wackelten.Wenn Karl nicht so schnell spurte, wie der Vater es wollte, hagelte es Ohrfeigen in Hülle und Fülle. Oder Hiebe mit dem Ledergürtel. Anfangs schrie Karl, wenn der Gürtel mit voller Wucht auf seinen nackten Hintern klatschte. Am Ende kam kein Ton mehr aus ihm heraus. Er biss die Zähne zusammen, bis ihm Tränen übers Gesicht liefen. Trotzdem gab er keinen Mucks mehr von sich.
    Das schien den Vater noch wütender zu machen. Er schlug so lange zu, bis auf seiner Stirn Schweißtropfen perlten und ihn die Kraft verließ. Dann warf er den Gürtel auf den Tisch und knurrte: »Aus dir prügle ich schon noch einen anständigen Sohn heraus!«
    Er öffnete eine weitere Flasche Bier und trank sie aus, ohne sie abzusetzen.
    * * *
    Eines Morgens, nachdem wir schon zwei Monate im Lohwiesenweg wohnten und Karl am ganzen Körper mit blauen Flecken übersät war, fand er seinen Vater plötzlich tot im Bett. Zuerst kamen zwei Männer von der Kriminalpolizei aus Oberhausen. Sie verhörten Karl in der Küche, während sein toter Vater im Schlafzimmer von einem Arzt aus Berkum untersucht wurde. Nach einer halben Stunde sagte der Arzt: »Äußerlich ist nichts zu erkennen.«
    Er füllte einen Zettel aus und fügte hinzu: »Ich schlage vor, den Leichnam ins gerichtsmedizinische Institut nach Essen zu überführen.«
    Die Männer von der Kriminalpolizei nickten. Dann kam der Leichenbestatter und holte den Vater ab. Die Kriminalbeamten nahmen Karl mit.
    Ich blieb alleine zurück, versteckt unter Karls Bett. Drei Tage lang lag ich voller Ungewissheit in dem stickigen kleinen Zimmer, bis endlich die Tür des Hauses aufging und Karl mich unter dem Bett hervorzog. Er drückte mich an sich und sagte: »Alles ist gut!«
    Wir beide kamen zurück ins Kinderheim zu Fred.
    * * *
    In den nächsten Ferien war Maya tatsächlich wieder da. Jetzt sah sie fast so aus wie die Sünderin im Lichtspielhaus. Nur mit Kleidern. Fred und Karl blieb beinahe der Mund offen stehen, als sie das Mädchen nach fast einem Jahr wiedersahen. Auch auf mich machte Maya inzwischen einen ziemlich erwachsenen Eindruck. Sie hatte jetzt lange blonde Haare, war mindestens einen halben Kopf größer als noch vor einem Jahr und sah fast schon aus wie eine junge Dame, der die Bergarbeiter in Berkum hinterherpfiffen. Woraufhin Maya ihnen immer nur die Zunge

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