Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert
Oberhausen führte.
»Und von da?«, fragte Fred eines Tages.
»Nach Essen«, sagte Karl, schon nicht mehr ganz so sicher. Ohne dass Fred ein weiteres Mal fragen musste, ergänzte er: »Und von da in die ganze Welt.«
Fred machte ein verkniffenes Gesicht, als könnte er sich darunter nicht allzu viel vorstellen. Die Welt war für die Freunde alles, was außerhalb von Berkum lag, zumindest jenseits von Oberhausen. Es war unvorstellbar und deshalb umso reizvoller.
»Kanada!«, murmelte Karl vor sich hin.
»Was willst du denn in Kanada?«
Karl hob die Schultern. »Bäume fällen, vielleicht.«
Fred lächelte.
»Bäume gibt’s da doch genug, oder?«
Jetzt hob Fred die Schultern.
»Oder Australien.«
»Zu den Kängurus, was?«
Karl nickte. »Weißt du eigentlich«, fragte er dann, »warum ein Känguru einen Beutel am Bauch hat?«
Fred schüttelte den Kopf.
»Damit es weiße Rammler nach Oberhausen auf den Wochenmarkt bringen kann.«
Beide lachten, bis ihre Augen tränten, und schlugen sich gegenseitig auf die Schultern. »Das hast du dir eben ausgedacht, oder?«, prustete Fred.
Karl wollte Ja sagen, brachte vor Lachen aber kein Wort heraus.
Der Abendzug rauschte vorbei. Der Fahrtwind wehte zu den beiden herüber, dass ihre Hosen schlackerten und die Haare senkrecht in der Luft standen. Die Freunde starrten auf die Zugfenster und sahen die Gesichter hinter den Scheiben vorüberhuschen. Dann waren sie verschwunden, und mit ihnen der Zug. Die Hosen der beiden schlackerten nicht mehr, und die Haare fielen wieder in sich zusammen.
»Bern!«, sagte Karl, als er dem davonratternden Zug hinterhersah.
»Was?«
»Schweiz.«
»Hä?«
»Nächstes Jahr.«
Fred wurde ärgerlich. »Was soll das?«
»Nächste Jahr ist die Fußball-WM.«
»Klar, weiß ich. Und?«
»In Bern ist das Endspiel!«
»Ja, und?«
»Vielleicht könnten wir …«
»Was?«
»Ist doch nicht so weit.«
»Was? Das sind sicher … na ja, ist bestimmt ’ne ziemlich lange Strecke.«
»Sechshundertfünfzig Kilometer genau.«
»Woher weißt du das?«
»Spint hat’s gesagt.«
»Ja, und?«
»Wir könnten nach Bern zur WM.«
»Du meinst, du und ich?«
»Klar. Unser Mount Everest!«
»Und wie, bitteschön? Zu Fuß?«
»Mit dem Zug!«
»Ach, mit dem Zug? Gute Idee. Und wie sollen wir das bezahlen?«
»Wir müssen ihn ja nicht gleich kaufen, und für die Fahrkarten könnten wir das Geld von den Hasen …«
»Das reicht nie im Leben.«
» Noch nicht. Aber vielleicht schaffen wir …«
»Außerdem brauchen wir Eintrittskarten.«
»Dann fahren wir mit dem Fahrrad!«
»Aber wir haben doch keine.«
»Wir nicht, aber …«
»Spint?«
»Ja. Hast du die zwei alten, verrosteten Räder in der Scheune gesehen?«
Fred nickte.
»Aber die sind doch völlig hinüber.«
»Na ja, bei einem fehlt der Lenker, und beim anderen ist die Bremse kaputt, aber …«
»Und die Felgen sehen aus, als hätten Elefanten Twist darauf getanzt.«
»Das könnten wir doch reparieren.«
»Wer? Du und ich?«
»Klar, wir haben ja fast noch ein Jahr Zeit dafür.«
»Bis zum Endspiel?«
»Bis zum Endspiel! und wenn wir nicht mehr weiterwissen, fragen wir Spint.«
»Meinst du, der hilft uns?«
»Wenn nicht der, dann keiner.«
»Und die Schwestern?«
»Denen sagen wir nichts.«
»Hand drauf.«
»Hand drauf.«
Sie klatschten sich gegenseitig in die Hände. Ihre Gesichter strahlten. Endlich hatten sie ihren eigenen Mount Everest!
»Und der?« Karl zeigte auf mich.
»Kommt mit!«
* * *
Am nächsten Tag knöpften die Jungs sich die beiden alten Fahrräder vor. Eigentlich waren es keine Fahrräder mehr, eher Schrotthaufen mit zwei Rädern. Spint sagte nur »Meinetwegen!«, als sie ihn fragten, ob sie die Räder haben könnten.
Sie schmirgelten zuerst den Rost ab. Dann bogen sie die Rahmen und Schutzbleche zurecht, so gut es ging. Sie zogen mithilfe von Spint die Speichen fest und versuchten die Felgen wieder runder zu bekommen. Manche Teile waren nicht mehr zu reparieren. Aber erst wenn Spint »Bringt nichts!« sagte, warfen die Jungs das Teil endgültig weg.
Spint war ein Tüftler. Ein besessener Bastler, einer, der alles konnte. Davon lebte er auch. Alles reparierte er. Wecker, Schuhe, Handtaschen, Stühle, Tische, Elektrogeräte, Radios, Lampen, Kinderwagen, Regenschirme, Puppen, Staubsauger, Hüte, Teppichklopfer, Speisewaagen und sogar Autos. Ging in Berkum etwas kaputt, brachten die Berkumer es wohl oderübel zu Spint, auch wenn sie ihn
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