Der Oligarch
Moskauer Christ-Erlöser-Kathedrale sprengen lassen – angeblich weil sie ihm die Aussicht aus seiner Kremlwohnung versperrte. Auf dem Land hatte er Kirchen in Scheunen und Getreidesilos umwandeln lassen. Manche wurden gegenwärtig renoviert. Andere lagen in Trümmern wie die Dörfer, deren Gotteshäuser sie einst gewesen waren. Das war Russlands schmutziges kleines Geheimnis. Dem Glanz und Luxus Moskaus standen die Armut und Vernachlässigung der Landbevölkerung gegenüber. Moskau bekam das Geld, die Dörfer bekamen abwesende Gouverneure und gelegentliche Besuche von irgendeinem Kremlabgesandten. Sie waren Orte, die man verließ, um sein Glück in der Stadt zu suchen. Sie waren Orte der Verlierer. In den Dörfern wurde nur noch getrunken und auf die reichen Hundesöhne in Moskau geschimpft.
Sie fuhren durch eine Reihe von Kleinstädten, von denen eine trostloser als die nächste war: Lakinsk, Demidowo, Worscha. Vor ihnen lag Wladimir, die Hauptstadt der gleichnamigen Oblast. Die dortige Maria-Himmelfahrts-Kirche mit ihren fünf Kuppeln war das Vorbild für alle Kathedralen Russlands gewesen – jener Kathedralen, die Stalin abgerissen oder in Schweineställe umgewandelt hatte. Wladimir und Umgebung waren seit 25000 Jahren besiedelt, erwähnte Michail – eine sogar für einen Jungen aus dem Jezreel-Tal eindrucksvolle Zahl.
Fünfundzwanzigtausend Jahre, dachte Gabriel, während er die Fabrikruinen am westlichen Stadtrand betrachtete. Wozu waren die Menschen einst hierher gekommen? Wieso waren sie geblieben? Weit in seinen Sitz zurückgelehnt, erinnerte er sich an seine letzte Nachtfahrt durch Russlands Weiten: Olga und Elena auf dem Rücksitz schlafend, Grigorij am Steuer. Eines müssen Sie mir versprechen, Gabriel … Wenigstens waren sie damals aus Russland hinausgefahren, nicht noch tiefer ins Land hinein. Michail fand im Autoradio eine Nachrichtensendung und lieferte eine Simultanübersetzung, während er fuhr. Der erste Tag des G8-Gipfels war gut verlaufen, zumindest nach Meinung des russischen Präsidenten, der einzig wichtigen Meinung. Dann bekam Michail durch wundersame atmosphärische Strahlungen eine BBC-Nachrichtensendung herein. In Simbabwe hatte es wichtige politische Veränderungen gegeben. In Südkorea einen Flugzeugabsturz. Und aus Afghanistan wurde ein schwerer Talibanangriff auf Kabul gemeldet. Zweifellos mit von Charkow gelieferten Waffen.
»Könnte man von hier aus nach Afghanistan fahren?«
»Klar«, sagte Michail. Dann zählte er Straßennummern und Entfernungen auf, während das seit fünfundzwanzig Jahrtausenden besiedelte Wladimir hinter ihnen im Dunkel zurückblieb.
Sie hörten BBC, bis der Empfang mit zunehmender Entfernung von Moskau zu schwach wurde. Dann stellte Michail das Radio ab und begann wieder mit den Fingern aufs Lenkrad zu trommeln.
»Macht dir irgendwas Sorgen, Michail?«
»Vielleicht sollten wir darüber reden. Mir wäre wohler, wenn wir alles noch hundert Mal durchsprechen würden.«
»Das ist nicht deine Art. Ich möchte, dass du zuversichtlich bist.«
»Dort drinnen wird deine Frau festgehalten. Ich mag mir gar nicht vorstellen, dass sie durch meine Schuld …«
»Zerbrich dir darüber nicht den Kopf. Aber wenn du alles noch hundert Mal durchsprechen möchtest …« Gabriel verstummte, während er in die schneebedeckte endlose Weite hinausstarrte. »Schließlich ist es nicht so, dass wir was Besseres zu tun hätten.«
Michails Stimme klang etwas tiefer, als er über das Unternehmen zu sprechen begann. Der Schlüssel zum Erfolg, sagte er, werde Geschwindigkeit sein. Sie mussten die Wachen blitzschnell überwältigen. Jeder Posten zögerte einen Augenblick lang, selbst wenn er einem Unbekannten gegenüberstand. Dieser Augenblick war ihre Chance. Sie würden ihn rasch und entschlossen nutzen. »Und ohne Schießerei«, sagte Michail. »Schießereien sind was für Cowboys und Gangster.«
Michail war nichts von beiden. Er gehörte den Sajeret Matkal an, der erfahrensten Elitetruppe der Welt. Die Sajeret hatten Unternehmen durchgeführt, von denen andere Einheiten nur träumen konnten. Sie hatten Geiseln aus einer Sabena-Maschine befreit, waren in Entebbe erfolgreich gewesen und hatten noch weit schwierigere Erfolge erkämpft, die nie bekannt werden würden. Michail hatte Terrorplaner der Hamas, des Islamischen Dschihads und der al-Aksa-Märtyrerbrigade liquidiert. Er war sogar im Libanon gewesen, um Mitglieder der Hisbollah zu ermorden. Das waren höllische
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