Der Oligarch
Gabriels Nerven straff gespannten Klaviersaiten. Er bemühte sich, seinen jagenden Puls zu verlangsamen, aber sein Körper weigerte sich, dem Befehl zu gehorchen. Er wollte die Augen schließen, aber er sah nur Satellitenfotos der kleinen Datscha im Birkenwald vor sich. Und den Raum, in dem Chiara und Grigorij wahrscheinlich in Fesseln gefangen gehalten wurden. Und die vier Bäche, an deren Zusammenfluss sich ein großes Sumpfgebiet auftat. Und die parallelen Vertiefungen unter den Bäumen.
Mein Exmann ist ein überzeugter Stalinist … Seine Stalinverehrung hat Einfluss auf seine Immobilienkäufe gehabt.
Sein abhörsicherer PDA half Gabriel, sich die Zeit zu vertreiben. Er meldete ihm, dass Navot, Jaakov und Oded zu der Datscha unterwegs waren. Er meldete ihm, dass die Überwachungskamera keine Veränderung in der Datscha oder in der Verteilung von Charkows Leuten registriert hatte. Er meldete ihm von Gott geschickten dichten Bodennebel über dem Sumpfgebiet, der ihre Annäherung tarnen würde. Und um 1.48 Uhr meldete er ihm schließlich, dass es allmählich Zeit war aufzubrechen.
Gabriel war längst angezogen und schwitzte unter mehreren Lagen Winterkleidung. Er zwang sich dazu, noch einige Minuten länger in seinem Zimmer auszuharren, bevor er das Licht ausknipste und leise auf den Flur hinaustrat. Als die Wanduhr in der Hotelhalle zwei Uhr schlug, trat er aus dem Aufzug und ging mit kurzem Nicken an dem Chruschtschow-Doppelgänger vorbei. Der schwarze Range Rover wartete mit laufendem Motor auf dem Teatralny Prospekt. Während sie mit hohem Tempo zur FSB-Zentrale hinauffuhren, trommelte Michail mit den Fingern auf das Lenkrad.
»Alles klar, Michail?«
»Alles bestens, Boss.«
»Du bist doch nicht etwa nervös?«
»Warum sollte ich nervös sein? Ich bin immer wieder gern in der Nähe der Lubjanka. Als ich noch klein war, hat der KGB meinen Vater dort ein halbes Jahr lang eingelocht. Hab ich dir das schon erzählt, Gabriel?«
Das hatte er.
»Hast du die Waffen?«
»Reichlich.«
»Funkgeräte?«
»Natürlich.«
»Satellitentelefon?«
»Gabriel, bitte.«
»Kaffee?«
»Zwei Thermosflaschen. Eine für uns, eine für die anderen.«
»Bolzenschneider?«
»Einen für jeden von uns beiden. Nur für den Fall.«
»Für welchen Fall?«
»Wenn einer von uns ausfällt.«
»Hier fällt niemand aus außer Charkows Wachleuten.«
»Wie du meinst, Boss.«
Michail fing wieder an mit den Fingern zu trommeln.
»Hast du vor, das während der ganzen Fahrt zu tun?«
»Ich will versuchen, es zu lassen.«
»Das ist gut. Davon bekomme ich nämlich Kopfschmerzen.«
Moskau weigerte sich, sie kampflos aus seinem Griff zu entlassen. Sie brauchten eine halbe Stunde, nur um von der Lubjanka zum Moskauer Autobahnring zu kommen: dreißig Minuten mit Staus, defekten Ampeln, Schlaglöchern, abgesperrten Tatorten und willkürlichen Straßensperren, an denen die Miliz kontrollierte. »Und dabei ist es zwei Uhr morgens«, sagte Michail aufgebracht. »Stell dir nur vor, wie es hier im Abendverkehr zugehen muss, wenn halb Moskau gleichzeitig auf dem Nachhauseweg ist.«
»Wenn es so weitergeht, müssen wir uns das gar nicht mehr vorstellen.«
Mit jedem Meter, den sie die Innenstadt hinter sich ließen, verschwanden allmählich die riesigen Wohnblocks, um auf den nächsten Kilometern Güterbahnhöfen und rauchenden Fabriken Platz zu machen. Dies waren die größten Fabriken, die Gabriel je gesehen hatte: Kolosse mit himmelhohen Schornsteinen und spärlich beleuchteten Hallen. Ein Güterzug ratterte in Gegenrichtung vorbei. Er war fünf Kilometer lang, dachte Gabriel. Oder vielleicht hundert. Bestimmt der längste Güterzug der Welt.
Sie blieben auf der Fernstraße M7, die nach Osten in die Weiten Zentralrusslands und bis durch Tatarstan führte. Und war man wirklich abenteuerlustig, ergänzte Michail, konnte man ab Ufa der transsibirischen M5 folgen und bis in die Mongolei und nach China fahren. »China, Gabriel! Kannst du dir vorstellen, nach China zu fahren?«
Das konnte Gabriel tatsächlich. Die reine Größe dieses Landes ließ alles möglich erscheinen, der endlose schwarze Himmel, an dem weiße Sterne hingen, ohne zu flimmern, die mit schlafenden Dörfern und Kleinstädten gesprenkelten, schneebedeckten weiten Ebenen, die schreckliche Kälte. In manchen Dörfern schimmerten Zwiebeltürme im hellen Mondschein. Charkows Vorbild hatte den russischen Kirchen schlimm mitgespielt. Im Jahr 1931 hatte er Kaganowitsch die
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