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Der Oligarch

Der Oligarch

Titel: Der Oligarch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Silva
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Einsätze in von Menschen wimmelnden Großstädten und Flüchtlingslagern gewesen. Nicht einer war fehlgeschlagen. Kein einziger Terrorist, auf den Michail angesetzt worden war, lebte noch. Für einen Mann wie ihn war eine Datscha in einem Birkenwald eine Bagatelle. Auch Charkows Leute kamen aus Eliteeinheiten wie der Alpha-Gruppe und der OMON. Trotzdem sprach Michail immer nur in der Vergangenheitsform von ihnen. Aus seiner Sicht waren sie bereits tot. Lautlosigkeit, Geschwindigkeit und präzise zeitliche Abstimmung würden entscheidend sein.
    Lautlosigkeit, Geschwindigkeit, Timing … Schamrons heilige Dreifaltigkeit.
    Im Gegensatz zu Michail hatte Gabriel keine Auftragsmorde im Gazastreifen oder im Westjordanland durchgeführt und es meistens vermieden, in arabischen Staaten zu operieren. Eine bemerkenswerte Ausnahme war Abu Dschihad gewesen, wie der Kampfname Chalid al-Wasirs, des nach Jassir Arafat zweithöchsten Mannes der PLO, gelautet hatte. Wie alle Sajeret-Rekruten hatte Michail dieses Unternehmen während seiner Ausbildung sehr genau studiert, aber er hatte Gabriel nie nach jener Nacht gefragt. Das tat er jetzt, während sie über die leere Fernstraße donnerten. Und Gabriel gab bereitwillig Auskunft, was er später bereuen würde.
    Abu Dschihad … Noch jetzt ließ der Klang dieses Namens Gabriel einen kalten Schauder über den Rücken laufen. Im April 1988 lebte dieser Mann – Symbol für die Leiden der Palästinenser – im luxuriösen Exil in Tunis, wo er eine große Villa in Strandnähe bewohnte. Gabriel hatte das Haus und seine Umgebung persönlich überwacht und den Bau einer exakten Kopie im Negev geleitet, wo sie vor dem Anlaufen des Unternehmens mehrere Wochen lang übten. In der Nacht des Anschlags kam er mit einem Schlauchboot an Land und stieg in einen bereitstehenden Van. Danach war alles in Minutenschnelle vorbei. Der vor dem Haus postierte Wachmann hatte am Steuer eines Mercedes gedöst. Gabriel erledigte ihn mit seiner Beretta mit Schalldämpfer durch einen Kopfschuss. Dann sprengte er von Sajeret-Helfern unterstützt die Haustür mit einer Sprengladung auf, die leiser als ein Händeklatschen war. Nachdem Gabriel den in der Eingangshalle postierten zweiten Wachmann erschossen hatte, schlich er die Treppe zu Abu Dschihads Arbeitszimmer hinauf. Er war so leise, dass der PLO-Stratege überhaupt nichts hörte, bevor er an dem Schreibtisch starb, an dem er sich gerade einen Videofilm über die Intifada ansah.
    Lautlosigkeit, Geschwindigkeit, Timing … Schamrons heilige Dreifaltigkeit.
    »Und danach?«, fragte Michail leise.
    Danach … Eine Szene aus Gabriels Albträumen.
    Aus dem Arbeitszimmer stürmend, war er fast mit Abu Dschihads Frau zusammengeprallt. Sie drückte erschrocken einen kleinen Jungen an ihre Brust und klammerte sich an den Arm ihrer halbwüchsigen Tochter. Gabriel starrte sie an und brüllte auf Arabisch: »Zurück in Ihr Zimmer!« Dann forderte er die Tochter ruhig auf: »Du gehst mit und kümmerst dich um deine Mutter.«
    Du gehst mit und kümmerst dich um deine Mutter …
    Es gab nur wenige Nächte, in denen er das Gesicht des Mädchens nicht vor Augen hatte. Und er sah es auch jetzt, als sie von der Fernstraße abbogen und in den nordöstlichsten Winkel der Oblast weiterfuhren. Manchmal fragte sich Gabriel, ob er auch abgedrückt hätte, wenn er gewusst hätte, dass das Mädchen hinter ihm stand. Und in den düstersten Momenten fragte er sich, ob nicht alles, was ihm seither zugestoßen war, eine Strafe Gottes dafür war, dass er einen Mann vor den Augen seiner Familie erschossen hatte. Jetzt drängte er das Mädchen wie schon unzählige Male zuvor sanft aus seinen Gedanken und nahm wahr, wie Michail erneut abbog – diesmal in einen dichten Tannen- und Fichtenwald. Die Scheinwerfer erloschen, der Motor wurde abgestellt.
    »Wie weit ist es bis zu dem Grundstück?«
    »Drei Kilometer.«
    »Wie lange dauert die Fahrt?«
    »Zehn Minuten. Wir fahren langsam und vorsichtig.«
    »Bist du dir sicher, Michail? Timing ist alles.«
    »Ich bin die Strecke zwei Mal abgefahren. Ich bin mir sicher.«
    Michail begann mit den Fingern auf die Mittelkonsole zu trommeln. Gabriel ignorierte ihn und sah auf die Borduhr: 6.25 Uhr. Warten … Warten auf den Sonnenaufgang vor einem Tag voller Morde. Darauf warten, Chiara in die Arme schließen zu können. Darauf warten, dass Abu Dschihads Kind ihm verzieh. Er goss sich einen Becher Kaffee ein und lud seine Waffen.
    6.26 … 6.27 … 6.28

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