Der Oligarch
…
Die Sonne ließ die Schneewehe rötlich erglühen. Chiara wusste nicht, ob es der Sonnenaufgang oder Sonnenuntergang war. Aber als der Widerschein das Gesicht des schlafenden Grigorijs erhellte, hatte sie eine Todesahnung, die so deutlich war, dass sie wie ein Felsblock auf ihrem Herzen lastete. Sie hörte, dass die Tür aufgesperrt wurde, und beobachtete, wie die Frau mit der milchweißen Haut und den durchscheinend blauen Augen ihr Verlies betrat. Sie brachte ihnen Essen: altbackenes Brot, fettige Wurst, Tee in Pappbechern. Ob das ihr Frühstück oder Abendessen war, hätte Chiara nicht sagen können. Die Frau ging hinaus, schloss wieder hinter sich ab. Chiara hielt ihren Becher mit gefesselten Händen und starrte die Schneewehe an. Wie üblich blieb das Licht nur wenige Minuten. Dann erlosch das Feuer, und der Kellerraum lag wieder in tiefstem Dunkel.
61 K ONAKOWO , R USSLAND
Wie das ganze Land war auch der Flugplatz Konakowo ein zweifacher Verlierer. Als die Luftwaffe ihn kurz nach dem Zerfall der Sowjetunion aufgab, ließ man ihn ziemlich verfallen, bevor er schließlich von einem Konsortium aus Geschäftsleuten und Lokalpolitikern übernommen wurde. Für kurze Zeit war er als ziviler Frachtflughafen mäßig erfolgreich, bis der Preisverfall des russischen Erdöls ihn zum zweiten Mal mit in die Tiefe riss. Konakowo, wo jetzt weniger als ein Dutzend Flüge pro Woche abgefertigt wurden, diente seither vor allem als Abstellplatz für ausgemusterte Antonows, Iljuschins und Tupolows. Aber seine Startbahn war mit 3650 Metern noch immer eine der längsten Zentralrusslands, und seine Befeuerungs- und Radaranlagen arbeiteten, an russischen Standards gemessen, gut, das heißt, sie funktionierten meistens.
An diesem Freitagmorgen waren alle Systeme betriebsfähig und der Räumdienst hatte große Anstrengungen unternommen, um Vorfeld und Landebahn schnee- und eisfrei zu bekommen. Und das aus gutem Grund. Dem Kontrollturm war aus dem Kreml mitgeteilt worden, eine C-32 der US-Luftwaffe werde um Punkt 9.00 Uhr in Konakowo landen. Außerdem würden Außenministerium und Zollbehörde Teams entsenden, um die Ankommenden zu begrüßen und die Einreiseformalitäten zu beschleunigen. Die Flughafenverwaltung erfuhr nicht, wer ankommen würde, und fragte wohlweislich nicht nach. Hatte der Kreml mit einer Sache zu tun, stellte man lieber keine überflüssigen Fragen. Außer man wollte Besuch vom FSB bekommen.
Die Moskauer Delegation traf kurz nach acht Uhr ein und wartete am Rand des windigen Vorfelds, als unter der Wolkendecke im Süden eine Kette aus drei Lichtern sichtbar wurde. Einige der Beamten hielten sie zunächst für die Landescheinwerfer des US-Flugzeugs, was aber nicht möglich war, weil die C-32 noch über hundertfünfzig Kilometer entfernt war und nicht aus Südosten, sondern von Westen anfliegen würde. Je näher die Lichter kamen, desto deutlicher hörbar wurde das Knattern von Hubschrauberrotoren. Aus der Ferne kamen drei Hubschrauber angeflogen, denen sogar Laien ansahen, dass sie keine russischen Maschinen waren. Ein Fluglotse identifizierte sie als modifizierte Bell 427. Einer der Delegierten sagte, das sei nur logisch: Iwan Charkow mochte bereit sein, Waffenladungen mit einer Rostlaube zu transportieren, aber wenn es um seine Familie ging, flog er nur amerikanisch.
Die Hubschrauber setzten auf dem Vorfeld auf und stellten nacheinander ihre Triebwerke ab. Aus den äußeren Maschinen sprangen Leibwächter, die eines russischen Präsidenten würdig gewesen wären: große Jungs, gut gekleidet, schwer bewaffnet, stahlhart. Sie umringten den mittleren Hubschrauber, dann trat einer von ihnen vor und öffnete die Kabinentür. Einige Augenblicke lang erschien niemand. Dann tauchte eine blond schimmernde Mähne auf, die ein jugendlich perfektes slawisches Gesicht umrahmte. Dieses Gesicht erkannten die Fluglotsen so rasch wie die Delegation auf dem Vorfeld. Die Blondine hatte auf unzähligen Zeitschriften und Plakatwänden geprangt, meistens weit spärlicher bekleidet als heute. Früher hatte sie Jekaterina Masurowa geheißen, jetzt trug sie den Namen Jekaterina Charkowa. Obwohl sie sorgfältig geschminkt und frisiert war, wirkte sie sichtlich nervös. Kaum dass sie einen eleganten Stiefel aufs Vorfeld gesetzt hatte, stauchte sie auch schon einen der Leibwächter zusammen – zum Bedauern der Augenzeugen allerdings nur sehr leise. In der Moskauer Delegation wies jemand darauf hin, dass ihre Nervosität nur
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