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Der Oligarch

Der Oligarch

Titel: Der Oligarch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Silva
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Schamron dachte, hätte er bestimmt die Maxime des Diensts zitiert, dass einem das Glück nämlich nie in den Schoß falle, sondern stets verdient werden müsse. Das hätte er getan, weil er in diesem Augenblick hundert Meter hinter der Datscha mit der Waffe, die seinen Namen trug, in den Armen auf dem Bauch im Schnee lag. Fünfzig Meter rechts von ihm lag Jaakov genau wie er im Schnee. Und fünfzig Meter links von ihm lag Oded. Direkt vor jedem von ihnen stand ein russischer Wachposten. Fünf Stunden waren vergangen, seit Navot und die beiden anderen durch den Birkenwald in Position gerobbt waren. In dieser Zeit hatten die Wachen zwei Mal gewechselt. Für die Mannschaft der ungebetenen Gäste hatte es natürlich keine Ablösung gegeben. Obwohl Navot für dieses Unternehmen passende Kleidung trug, zitterte er vor Kälte. Er vermutete, dass Jaakov und Oded ebenso litten, obwohl er seit Stunden nicht mehr mit den beiden gesprochen hatte. An diesem Morgen war strikte Funkstille befohlen worden.
    Navot war versucht, sich selbst zu bemitleiden, aber davon wollte sein Verstand nichts wissen. Immer wenn die Kälte unerträglich zu werden drohte, dachte er an die Lager und die Gettos und die schrecklichen Winter, die sein Volk während der Schoah durchlitten hatte. Wie Gabriel verdankte auch Navot seine Existenz jemandem, der den Mut und den Willen aufgebracht hatte, diese Winter zu überleben: seinem Großvater väterlicherseits, der fünf Jahre lang in den Arbeitslagern der Nazis geschuftet hatte. Der fünf Jahre von Hungerrationen gelebt hatte. Der fünf Jahre in der Kälte geschlafen hatte. Wegen seines Großvaters war Navot in den Dienst eingetreten. Und wegen seines Großvaters lag er von Birken umgeben hundert Meter hinter einer Datscha im Schnee. Der vor ihm stehende Russe würde bald tot sein. Auch wenn Navot kein Experte wie Gabriel oder Michail war, hatte er seinen Wehrdienst in der Armee abgeleistet und an der Akademie eine gründliche Waffenausbildung erhalten. So war es auch bei Jaakov und Oded gewesen. Für sie waren fünfzig Meter nichts, sogar mit vor Kälte starren Händen, sogar mit aufgesetzten Schalldämpfern. Und es würde keine Schüsse auf den Oberkörper geben. Nur Kopfschüsse. Damit kein Sterbender die anderen über Funk warnen konnte.
    Navot drehte das linke Handgelenk und sah auf seine Digitaluhr: 8.59. Sie mussten noch sechs Minuten in der Kälte ausharren. Er bewegte die Finger und wartete auf Gabriels Stimme in seinem Ohrhörer.
     
    Die zweite und abschließende Sitzung des G8-Sondergipfels begann um Punkt neun Uhr im prunkvollen St.-Georgssaal des Großen Kremlpalasts. Der US-Präsident kam wie immer auf die Minute pünktlich und nahm seinen Platz am Frühstückstisch ein. Ein glücklicher Zufall wollte es, dass der britische Premierminister rechts neben ihm platziert worden war. Der russische Präsident saß ihm gegenüber zwischen der deutschen Bundeskanzlerin und dem italienischen Ministerpräsidenten, seinen engsten Verbündeten in Westeuropa. Seine Aufmerksamkeit galt jedoch eindeutig der angloamerikanischen Seite des Tisches. Tatsächlich fixierte er die beiden englisch sprechenden Politiker mit dem zu seinem Markenzeichen gewordenen starren Blick, den er immer benutzte, wenn er auf die russische Öffentlichkeit entscheidungsfreudig und entschlossen wirken wollte.
    »Glauben Sie, dass er es weiß«, fragte der britische Premierminister.
    »Soll das ein Witz sein? Er weiß alles.«
    »Ob es klappt?«
    »Das erfahren wir bald genug.«
    »Ich hoffe nur, dass dieser Frau nichts zustößt.«
    Der Präsident trank einen kleinen Schluck Kaffee. »Welcher Frau?«
     
    Stalin hatte es nie geschafft, auch Samoskworjetschje umzugestalten. Die Straßen dieses hübschen alten Viertels unmittelbar südlich des Kremls sind von den Schrecken sowjetischer Stadtplanung weitgehend verschont geblieben und noch heute von prächtigen Villen und Kirchen mit Zwiebeltürmen gesäumt. In der Bolschaja Ordynka 56 beherbergt das Viertel die Botschaft des Staates Israel. Rimona, die von zwei Schin-Beth-Leuten flankiert wurde, wartete gleich hinter dem Sicherheitstor. Wie Uzi Navot hatte sie nur Augen für einen einzigen Gegenstand: einen Mercedes der S-Klasse, der punkt neun Uhr am Randstein vorgefahren war.
    Die Limousine wirkte tiefergelegt, weil Panzerung und schussfeste Scheiben schwer auf den Federn lasteten. Außerdem waren die Scheiben so stark getönt, dass Rimona nicht erkennen konnte, wer in dem Wagen

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