Der Oligarch
Blut würde fließen. Und Menschen würden sterben.
Wie es der Zufall wollte, bliesen die Triebwerksstrahlen der C-32 die kleine Papierkugel übers Vorfeld auf die Moskauer Delegation zu, wo sie zuletzt vor den Füßen des Vizeaußenministers liegen blieb. Einen Augenblick lang spielte er mit dem Gedanken, sie ihre Reise ins Nichts fortsetzen zu lassen, aber das ließ seine bürokratische Konditionierung nicht zu. Schließlich war die Mitteilung gewissermaßen ein amtliches Schriftstück.
Charkows gewaltige Pranke hatte das Blatt Papier zu einer golfballgroßen Kugel zusammengeknüllt, sodass der Vize einige Sekunden brauchte, um es zu entfalten und wieder zu glätten. Oben trug es den offiziellen Briefkopf des 89th Airlift Wing. Darunter standen einige auf Englisch geschriebene Zeilen, die ein offenbar unter emotionalem Stress stehendes Kind zu Papier gebracht hatte. Nach der ersten überlegte der Vize, ob er überhaupt weiterlesen sollte. Wieder ließ die Pflicht ihm keine andere Wahl.
Wir wollen nicht in Russland leben.
Wir wollen nicht mit Jekaterina zusammenleben.
Wir wollen heim nach Amerika.
Wir wollen zu unserer Mutter.
Wir hassen dich.
Leb wohl.
Als der Vize aufsah, kletterte Iwan Charkow eben wieder in seinen Hubschrauber. Seht ihn euch an! Seht euch Iwan Borisowitsch an! Er hat alles auf der Welt: Berge von Geld, ein Supermodel zur Frau. Alles, nur die Liebe seiner Kinder nicht. Seht ihn euch an!
Du bist nichts, Iwan Borisowitsch! Nichts!
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W LADIMIRSKAJA O BLAST , R USSLAND
Das Verbotsschild an der Einfahrt stammte noch aus Sowjetzeiten. Die Birken auf beiden Seiten der Zufahrt wuchsen seit der Zarenzeit hier. Vierzig Meter vor ihnen stand mitten auf der schmalen Straße ein Range Rover mit zwei russischen Wachleuten auf den Vordersitzen. Michail blinkte ihn an. Der Range Rover blieb, wo er war.
Michail öffnete seine Tür und stieg aus. Er trug einen schweren grauen Parka mit bis zum Kinn hochgezogenem Reißverschluss und eine tief ins Gesicht gezogene schwarze Wollmütze. In dieser Aufmachung war er nur irgendein Russe. Ein weiterer von Charkows Leuten. Ein übellauniger Veteran der Alpha-Gruppe, der es nicht mochte, bei minus zwanzig Grad aussteigen zu müssen.
Er trat mit den Händen in den Taschen und gesenktem Kopf an die Fahrerseite des Range Rovers. Die Scheibe glitt nach unten. Michails Pistole kam heraus.
Sechs grelle Lichtblitze. Kaum ein Geräusch.
Gabriel murmelte einige Worte in sein Lippenmikrofon. Michail griff an dem leblosen Fahrer vorbei, schlug das Lenkrad scharf rechts ein und stellte den Wahlhebel des Automatikgetriebes von P auf D. Der Range Rover setzte sich langsam in Bewegung, kam rechts von der Straße ab und wurde erst von einer Birke aufgehalten. Michail stellte den Motor ab und warf den Zündschlüssel in den Wald. Eine halbe Minute später saß er wieder neben Gabriel und fuhr in halsbrecherischem Tempo zur Datscha weiter.
Im selben Augenblick erfassten hinter der Datscha drei Männer drei Ziele. Dann gaben drei Männer auf Navots Zeichen drei Schüsse ab.
Drei grelle Lichtblitze. Kaum ein Geräusch.
Sie krochen im Schnee unter den Birken vorwärts und richteten sich kniend neben den Erschossenen auf. Sicherten ihre Waffen. Schalteten ihre Funkgeräte aus. Navot sprach leise in sein Lippenmikrofon. Zielpersonen ausgeschaltet. Rückwärtiger Bereich gesichert.
Genau zweihundert Kilometer weit südwestlich sperrte Irina Bulganowa, die Exfrau des Überläufers Grigorij Bulganow, in der Moskauer Twerskaja ulitsa die Tür des Reisebüros Galaxy Travel auf und drehte das Schild GESCHLOSSEN um, sodass GEÖFFNET zu lesen war. Sieben Minuten zu spät, dachte sie. Allerdings spielte das keine Rolle. Die Buchungen waren dramatisch zurückgegangen – das Geschäftsklima war eisiger als die Moskwa, wie es ihr gelegentlich zu poetischen Vergleichen neigender Geschäftsführer ausdrückte. Das Weihnachtsgeschäft war eine einzige Pleite gewesen. Buchungen für die Skisaison gab es praktisch keine. Heutzutage hielten sogar die Oligarchen ihr Geld zusammen. Das Wenige, das sie noch besaßen.
Irina setzte sich an ihren Schreibtisch in Fensternähe und tat ihr Bestes, um beschäftigt zu wirken. Bei Galaxy war die Rede von Sparmaßnahmen. Von gekürzten Provisionen. Sogar von Entlassungen. Dem Kapitalismus sei Dank! Vielleicht hatte Lenin doch recht gehabt. Zumindest hatte er es geschafft, die Ungewissheit zu beseitigen. Unter den Kommunisten waren die
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