Der Oligarch
mit Charkows Frau gehabt. Zumindest glaubte Charkow das. Kurz vor Charkows Sturz hatten zwei seiner Schläger Michail in einem Café am Vieux Port in Saint-Tropez eine kräftige Abreibung verpasst. Aber das war erst ein Aperitif gewesen. Charkows Gesichtsausdruck verriet, dass ein Bankett aus Schmerzen aufgetischt würde, das Michail und er gemeinsam zu sich nehmen würden.
Sein Blick schwenkte langsam vor und zurück wie ein Suchscheinwerfer über ebenes Gelände und ruhte zuletzt wieder auf Gabriel. Dann sprach er zum ersten Mal. Gabriel hatte sich stundenlang Aufnahmen von Charkows Stimme angehört, ihn jedoch nie selbst gehört. Charkows Englisch war zwar perfekt, aber er sprach mit dem schaurigen Akzent eines Propagandaredners von Radio Moskau im Kalten Krieg. Sein voller Bariton ließ die Wände ihres Kerkers erzittern.
»Ich freue mich sehr, dass es mir gelungen ist, Ihre Frau und Sie zu vereinen, Allon. So hat wenigstens einer von uns unsere Vereinbarung eingehalten.«
»Und welche Vereinbarung war das?«
»Ich lasse Ihre Frau frei, Sie geben mir meine Kinder zurück.«
»Anna und Nikolai waren heute Morgen um neun Uhr in Konakowo.«
»Ich wusste nicht, dass Sie meine Kinder mit Vornamen ansprechen.«
Gabriel sah kurz zu Chiara hinüber, bevor er wieder Charkows stahlharten Blick erwiderte. »Wäre meine Frau heute Morgen um neun Uhr vor unserer Botschaft gewesen, wären Ihre Kinder jetzt bei Ihnen. Aber meine Frau war nicht da. Deshalb sind Ihre Kinder nun auf dem Rückflug nach Amerika.«
»Wollen Sie mich für dumm verkaufen, Allon? Sie hatten nie vor, die Kinder von Bord dieses Flugzeugs gehen zu lassen.«
»Das war ihre Entscheidung, Charkow. Wie ich höre, haben sie Ihnen sogar eine Mitteilung geschrieben.«
»Eine offenkundige Fälschung – genau wie das Gemälde, das Sie meiner Frau angedreht haben. Dabei fällt mir übrigens ein: Sie schulden mir zweieinhalb Millionen Dollar, ganz zu schweigen von den zwanzig Millionen, die Ihr Dienst von meinen Bankkonten abgeräumt hat.«
»Leihen Sie mir Ihr Handy, Charkow, dann lasse ich das Geld telegrafisch überweisen.«
»Meine Handys scheinen heute nicht sehr gut zu funktionieren.« Charkow lehnte mit einer Schulter am Türrahmen und fuhr sich mit einer Hand durch die graue Stahlwolle auf seinem Kopf. »Eigentlich ein Jammer, nicht wahr.«
»Was denn, Charkow?«
»Meine Männer schätzen, dass Sie im Augenblick des Zusammenstoßes nur zehn Sekunden von der Ausfahrt entfernt waren. Hätten Sie es bis zur Straße geschafft, wären Sie vielleicht nach Moskau zurückgekommen. Ich denke, dass Sie es geschafft hätten, wenn Sie nicht versucht hätten, den Deserteur Bulganow mitzunehmen. Es wäre klüger gewesen, ihn zurückzulassen.«
»Das hätten Sie wohl getan, Charkow?«
»Ganz ohne Frage. Sie müssen sich jetzt ziemlich dämlich vorkommen.«
»Wieso?«
»Ihre reizende Frau und Sie werden sterben, weil Sie zu anständig waren, um einen verletzten Überläufer und Verräter zurückzulassen. Aber das war schon immer Ihre Achillesferse, nicht wahr, Allon? Ihre Anständigkeit.«
»Meine Schwächen sind mir jederzeit lieber als Ihre, Charkow.«
»Irgendetwas sagt mir, dass Sie Ihre Meinung in ein paar Minuten ändern werden.« Charkow bedachte Gabriel mit einem verächtlichen Lächeln. »Nur so aus Neugier: Wie haben Sie rausgekriegt, wo ich Ihre Frau und den Deserteur Bulganow versteckt hatte?«
»Sie sind verraten worden.«
Das war ein Wort, das Charkow gut verstand. Er runzelte die breite Stirn.
»Von wem?«
»Von Leuten, die Sie für vertrauenswürdig halten.«
»Wie Sie sich denken können, Allon, traue ich niemandem – vor allem nicht den Leuten, die mir angeblich nahestehen. Aber über dieses Thema können wir uns bald eingehender unterhalten.« Er sah sich in dem Kellerraum um und wirkte leicht verwirrt, als kämpfe er mit einer Mathematikaufgabe. »Sagen Sie mir, Allon, wo ist der Rest Ihres Teams?«
»Sie sehen es vor sich.«
»Wissen Sie, wie viele Leute heute Morgen hier gestorben sind?«
»Wenn Sie mir einen Augenblick Zeit lassen, kann ich sie bestimmt …«
»Fünfzehn, die meisten Veteranen aus der Alpha-Gruppe und der OMON.« Er sah zu Michail hinüber. »Nicht schlecht für einen Computerspezialisten, der für eine gemeinnützige Menschenrechtsorganisation arbeitet. Wie war doch noch mal der Name der Organisation, Michail?«
»The Dillard Center for Democracy.«
»Ah, ganz recht. Ich vermute, dass das Dillard
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