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Der Oligarch

Der Oligarch

Titel: Der Oligarch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Silva
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Wunsch haben kann, wie wir zu sein.«
    Am Fußende des Betts stand ein weißer Karton mit dem Namensaufdruck einer Wäscherei und chemischen Reinigung in der Elgin Avenue. Als Gabriel den Deckel abnahm, sah er ein halbes Dutzend Hemden: sorgfältig gebügelt, zusammengelegt und in Seidenpapier eingeschlagen. Obenauf lag ein Kassenzettel. Sein Datum stimmte mit dem Tag von Grigorijs Verschwinden überein. Als Uhrzeit war 15.42 aufgedruckt.
    »Wir vermuten, dass sein Führungsoffizier wollte, dass sein letzter Tag in London möglichst normal ablief«, sagte Seymour.
    Gabriel fand diese Erklärung bestenfalls zweifelhaft. Er ging ins Bad und öffnete den Spiegelschrank. Zwischen diversen Toilettenartikeln standen drei braune Fläschchen mit verschreibungspflichtigen Medikamenten: gegen Schlaflosigkeit, gegen Beklemmungen und gegen Migräne.
    »Wer hat die verschrieben?«
    »Ein Arzt, der für uns arbeitet.«
    »Grigorij ist mir nie als ängstlicher Typ aufgefallen.«
    »Er hat gesagt, er stehe wegen des Ablieferungstermins seines Buchs stark unter Druck.«
    Gabriel nahm ein Mittel gegen Verdauungsbeschwerden heraus und zeigte Seymour das Etikett.
    »Er hatte einen empfindlichen Magen«, sagte Seymour.
    »Dann hätte er sich besser nicht von Salzhering und Tomatensoße ernährt.«
    Gabriel schloss die Tür und hob den Deckel des Wäschekorbs hoch. Der Korb war leer.
    »Wo ist seine schmutzige Wäsche?«
    »Die hat er abgegeben, bevor er untergetaucht ist.«
    »Klar, das täte ich auch, wenn ich überlaufen wollte.«
    Gabriel machte das Licht im Bad aus und folgte Seymour eine Treppe tiefer ins Wohnzimmer. Der Couchtisch war mit Zeitungen übersät, von denen einige aus London, die meisten aber aus Russland stammten: Iswestija, Kommersant, Komsomolskaja Prawda, Moskowskaja Gaseta. An einer Tischecke stand ein russisches Teeglas, dessen Restinhalt längst verdunstet war. Auch der Aschenbecher neben dem Glas quoll von Kippen über. Gabriel schob die oberen mit der Spitze eines Kugelschreibers beiseite. Alle dieselbe Marke: Sobranie White Russian. In diesem Augenblick drang von draußen Lachen herein. Als Gabriel die Lamellenjalousie einen Spalt weit öffnete, sah er unter sich ein eng umschlungenes Liebespaar vorbeigehen.
    »Sie haben bestimmt irgendwo eine Kamera auf dem Innenhof?«
    Seymour zeigte auf das Fallrohr einer Regenrinne in der Nähe des Durchgangs.
    »Waren irgendwelche Russen da, um sich umzusehen?«
    »Niemand, den wir mit der hiesigen Residentur hätten in Verbindung bringen können.«
    Residentur war die Bezeichnung des russischen Auslandsnachrichtendienst SWR für seine Dienststellen in russischen Botschaften. Der Resident war der Stationschef, die Residentur die Station selbst. Wie so vieles beim SWR stammten diese Bezeichnungen noch aus KGB-Zeiten.
    »Was passiert, wenn jemand in die Mews kommt?«
    »Wohnt er hier, geschieht nichts. Kennen wir ihn nicht, wird er beschattet und überprüft. Bisher immer ergebnislos.«
    »Und niemand hat versucht, in das Haus selbst einzudringen?«
    Seymour schüttelte den Kopf. Gabriel ließ die Jalousielamelle zurückfallen und trat an Grigorijs unaufgeräumten Schreibtisch. Vorn in der Mitte stand ein Notebook, dessen Bildschirm dunkel war. Auf dem Telefon daneben blinkte eine rote Drei auf der Anzeige des Anrufbeantworters.
    »Die müssen neu sein«, sagte Seymour.
    »Darf ich?«
    Ohne seine Antwort abzuwarten, drückte Gabriel die Wiedergabetaste. Nach einem hohen Signalton meldete sich eine männliche Tonbandstimme: »Sie haben drei Nachrichten.« Die erste war von der Sparkle Clean Laundry, die Mr. Bulganow daran erinnerte, dass er seine Wäsche abholen könne. Die zweite von einem Produzenten der BBC-Sendung Panorama, der Mr. Bulganow für einen geplanten Dokumentarfilm über den Wiederaufstieg Russlands buchen wollte.
    Die letzte Nachricht kam von einer Frau, die mit starkem russischen Akzent sprach. Ihre Stimme erklang in einer Molltonart. C-Moll, dachte Gabriel – die Tonart ernster Konzentration, die Tonart philosophischer Selbstbeobachtung. Die Frau sagte, sie habe gerade die neuesten Seiten des Manuskripts gelesen und würde sie gern mit Grigorij diskutieren, sobald es ihm passe. Sie gab keine Telefonnummer für einen Rückruf an, nannte auch ihren Namen nicht. Für Gabriel war das ebenfalls nicht nötig. Der Klang ihrer Stimme hallte seit ihrer ersten Begegnung in seinem Gedächtnis wider. Darf ich mich vorstellen?, hatte sie an jenem Abend in Moskau

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