Der Oligarch
gesagt. Mein Name ist Olga Suchowa.
»Ich denke, wir wissen jetzt, wer diese Randbemerkungen in Grigorijs Manuskript geschrieben hat.«
»Das denke ich auch.«
»Ich will sie sprechen, Graham.«
»Das wird sich nicht machen lassen, fürchte ich.« Seymour schaltete den Anrufbeantworter aus. »Rom hat gesprochen. Die Sache ist zu Ende.«
1 З M AIDA V ALE , L ONDON
Die sozialen Wohnblöcke über der Delamere Terrace sahen aus, als hätten sie die Sowjets in der Blütezeit des Realsozialismus aus dem Boden gestampft. Jeder der einfallslos geplanten und schlecht gebauten Blocks trug einen sehr englisch klingenden Namen, der idyllisches Landleben hinter seinen Mauern suggerieren sollte, und ein gelbes Warnschild, das besagte, dass dieser Bereich unter ständiger Videoüberwachung stehe. Wenige Minuten vor seinem Verschwinden war Grigorij an den Wohnblocks vorbeigegangen. Das tat Gabriel, der den Weg des Russen zurückverfolgte, jetzt auch. Obwohl er es sich nicht gern eingestand, hatten Seymours Informationen sein absolutes Vertrauen in Grigorijs Unschuld erschüttert. War er tatsächlich übergelaufen? Oder war er doch entführt worden? Gabriel war sich sicher, dass die Antwort hier auf den Straßen von Maida Vale zu finden war.
Zeig mir, wie sie’s gemacht haben, Grigorij. Zeig mir, wie sie dich in den Mercedes gelockt haben.
Er ging zum Browning’s Pool und blieb vor dem Waterside Café stehen, das jetzt geschlossen und verrammelt war. Vor seinem inneren Auge lief das Video der Überwachungskamera ab. Um 18:03:37 war Grigorij anscheinend ein Paar aufgefallen, das von der Bloomfield Road kommend über die Westbourne Terrace Road Bridge ging. Der Mann trug einen Trenchcoat mit Gürtel und hielt einen aufgespannten Regenschirm in der Hand. Die Frau hatte sich freundschaftlich bei ihm untergehakt. Sie trug einen Wollmantel mit Pelzkragen und studierte etwas – einen Stadtplan, dachte Gabriel, oder vielleicht einen Reiseführer.
Gabriel drehte sich jetzt um, wie Grigorij sich umgedreht hatte, und folgte dem Kai von Browning’s Pool zu der Treppe, die zum Warwick Crescent hinaufführte. Oben blieb er stehen, wie Grigorij stehen geblieben war, zündete sich aber keine Zigarette an. Stattdessen ging er kurz darauf zur Harrow Road weiter, wo Grigorij etwas – oder jemanden – gesehen hatte, was ihn veranlasst hatte, schneller zu gehen. Das tat nun auch Gabriel und folgte dem menschenleeren Gehsteig etwa zweihundert Meter weit.
Trotz der späten Stunde war der lärmende Verkehr auf der vierspurigen Hauptverkehrsstraße unvermindert stark. Gabriel blieb kurz an der St. Mary’s Church stehen, ging ein paar Schritte weiter und machte nochmals Halt. Hier ist es gewesen, dachte er. Dies war die Stelle, an der Grigorij zu verängstigt gewesen war, um weitergehen zu können. Die Stelle, an der er Halt gemacht und sich plötzlich dem entgegenkommenden Verkehr zugewandt hatte. Auf den Überwachungsbildern hatte es so ausgesehen, als spiele Grigorij kurz mit dem Gedanken, die viel befahrene Straße zu überqueren. Das hätte seinen sicheren Tod, wenn auch auf andere Weise, bedeutet.
Der Blick nach links blieb an einer Ziegelmauer hängen: zwei Meter hoch und mit Graffiti bedeckt. Rechts von sich sah Gabriel den Strom aus Stahl und Glas, der sich über die Harrow Road ergoss. Wieso hatte Grigorij hier Halt gemacht? Und wieso war er, ohne zu zögern, eingestiegen, als ungerufen ein Wagen aufgetaucht war? War das ein zuvor arrangiertes Schlupfloch gewesen? Oder eine perfekt gestellte Falle?
Hilf mir, Grigorij. Haben Sie dir einen alten Feind geschickt, um dich so zu verängstigen, dass du heimkommst? Oder einen Freund, der dich sanft an der Hand nehmen sollte?
Gabriel blickte ins grelle Licht der entgegenkommenden Scheinwerfer. Und er sah für einen Moment einen kleinen, gut gekleideten Mann, der seinen Regenschirm als Stock benutzte, auf dem Gehsteig auf sich zukommen. Dann sah er die Frau. Eine Frau in einem kurzen Ledermantel, die keinen Schirm trug. Eine Frau, die im Regen ohne Hut unterwegs war. Jetzt drängte sie sich an ihm vorbei, als fürchte sie, sich zu einem Termin zu verspäten, und hastete die Harrow Street entlang davon. Gabriel versuchte, sich an ihre Gesichtszüge zu erinnern, aber das konnte er nicht. Sie waren geisterhaft fragmentarisch wie die ersten schwachen Striche einer unvollendeten Skizze. Und so stand er wieder allein da, vom dumpfen Brausen des Londoner Stoßverkehrs halb betäubt, und
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