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Der Oligarch

Der Oligarch

Titel: Der Oligarch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Silva
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freundlich, ihn Ihnen wieder abzunehmen.«
    »So sehen wir die Sache nicht.«
    »Wie sehen Sie sie dann?«
    Seymour dachte angelegentlich nach. »Wie Sie sich denken können, stehen Grigorijs Motive jetzt im Mittelpunkt recht intensiver Debatten. Und wie Sie sich auch denken können, sind die Meinungen geteilt. Manche denken, er sei von Anfang an unzuverlässig gewesen. Andere glauben, bei ihm sei irgendwann ein Sinneswandel eingetreten.«
    »Ein Sinneswandel?«
    »Wie bei diesem Jurtschenko, der in den achtziger Jahren zu den Amerikanern übergelaufen ist. Sie erinnern sich an Witalij Jurtschenko? Wenige Monate nach seiner Desertion war er in einem schrecklichen kleinen französischen Restaurant in Georgetown beim Abendessen und erklärte seinem Führungsoffizier, er gehe eben mal frische Luft schnappen. Er ist nie zurückgekommen.«
    »Grigorij soll Heimweh gehabt haben?« Gabriel schüttelte den Kopf. »Er konnte nicht schnell genug aus Russland rauskommen. Er wäre niemals freiwillig zurückgekehrt.«
    »Seine eigenen Worte lassen etwas anderes vermuten.« Seymour holte einen einfachen braunen Umschlag aus seinem Aktenkoffer und hielt ihn zwischen zwei Fingern hoch. »Vielleicht sollten Sie sich erst das hier anhören, bevor Sie ihre Hand für Grigorij ins Feuer legen. Er ist nicht besonders zuverlässig, fürchte ich.«

11 M AIDA V ALE , L ONDON
    Der Brief vom 12. Januar war an den Decknamen von Grigorijs MI5-Führungsoffizier gerichtet. Der Text war kurz, nur fünf Sätze lang, und auf Englisch geschrieben, das Grigorij recht gut beherrschte – gut genug, wie sich Gabriel erinnerte, um ein ziemlich beängstigendes Verhör in den Kellern der Lubjanka zu führen. Graham Seymour las den Brief laut vor. Dann überließ er ihn Gabriel, der ihn nochmals las.
     
    Entschuldigen Sie, dass ich Ihnen nicht von meinen Rückkehrplänen erzählt habe, Monty, aber Sie verstehen bestimmt, warum ich sie für mich behalten habe. Ich hoffe, dass mein Handeln Ihnen nicht als Makel anhaften wird. Sie sind viel zu anständig für diesen Beruf. Ich habe die Zeit mit Ihnen genossen – vor allem die Schachpartien. Sie haben mir London fast erträglich gemacht.
    Grüße, G.
     
    »Dieser in Zürich aufgegebene Brief war an ein MI5-Postfach in Camden Town adressiert. Die Adresse kannten nur einige Spitzenkräfte, Grigorijs Führungsoffizier und Grigorij selbst. Soll ich fortfahren?«
    »Ich bitte darum.«
    »Unsere Fachleute haben festgestellt, dass das Originalbriefpapier im Format A4 aus einer deutschen Papierfabrik in Hamburg stammt. Auch der Briefumschlag kommt von dort, passt aber nicht ganz zu dem verwendeten Papier. Unsere Fachleute konnten auch die Handschrift sowie mehrere latente Fingerabdrücke auf dem Briefbogen eindeutig Grigorij Bulganow zuordnen.«
    »Handschriften lassen sich fälschen, Graham. Genau wie Gemälde.«
    »Und die Fingerabdrücke?«
    Gabriel fasste Seymours Hand am Handgelenk und legte sie auf das Blatt Papier. »Wir reden hier von Russen, Graham. Die halten sich nicht an die Queensberry-Regeln.«
    Seymour entzog ihm seine Hand. »Der Brief beweist, dass Grigorij freiwillig mitgemacht hat. Er war an den richtigen Decknamen seines Führungsoffiziers adressiert und an die korrekte Tarnadresse gerichtet.«
    »Vielleicht ist er gefoltert worden. Vielleicht war aber auch keine Folter nötig, weil Grigorij genau wusste, was passieren würde, wenn er sich weigerte. Er ist einer von ihnen gewesen, Graham. Er kennt ihre Methoden. Er hat sie selbst angewendet. Das weiß ich nur zu gut. Ich habe ihn in seinem Element erlebt.«
    »Wozu dieses Verwirrspiel mit einem Brief, wenn Grigorij entführt worden ist?«
    »Die Russen haben auf englischem Boden ein schweres Verbrechen begangen. Da ist es ganz natürlich, dass sie versuchen, ihre Spuren mit solchen Tricks zu verwischen. Keine Entführung, kein Verbrechen.«
    Seymour betrachtete Gabriel mit seinen granitgrauen Augen. Wie sein Händedruck waren sie eine unfaire Waffe. »Zwei Männer stehen vor einem abstrakten Gemälde. Einer sieht Wolken über einem Weizenfeld, der andere zwei Blauwale, die sich paaren. Wer hat recht? Und ist das wichtig? Verstehen Sie, was ich meine, Gabriel?«
    »Ich gebe mir größte Mühe, Graham.«
    »Ihr Überläufer ist fort. Und nichts, was wir jetzt sagen, kann etwas daran ändern.«
    »Mein Überläufer?«
    »Sie haben ihn hergebracht.«
    »Und Sie haben sich bereit erklärt, ihn zu beschützen. Eine Stunde nachdem Grigorij sich nicht

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