Der Oligarch
altern lassen. Das Porträt gehörte zu Leahs besten Arbeiten. Gabriel hatte es stets gehasst, weil es mit brutaler Ehrlichkeit zeigte, welchen Tribut der »Zorn Gottes« von ihm gefordert hatte.
Körperlich erschöpft und künstlerisch ausgebrannt suchte er Zuflucht in Venedig, um sich bei dem berühmten Umberto Conti zum Restaurator ausbilden zu lassen. Nach Abschluss seiner Lehre holte Schamron ihn in den aktiven Dienst zurück. Als professioneller Restaurator getarnt, liquidierte Gabriel die gefährlichsten Feinde Israels und gewann durch geräuschlose Ermittlungen wichtige Freunde in Washington, im Vatikan und in London. Aber er hatte auch mächtige Feinde. Er konnte auf keiner Straße ohne die nagende Angst unterwegs sein, von einem seiner Feinde verfolgt zu werden. Und er konnte in keinem Hotelzimmer schlafen, ohne zuvor die Tür mit einem Stuhl zu verbarrikadieren, was er auch in diesem Moment tat.
Er legte die DVD mit den CCTV-Aufnahmen in den DVD-Player unter dem Fernseher ein, zog dann nur die Schuhe aus und machte sich auf dem Bett lang. In den folgenden Stunden sah er sich wieder und wieder das Überwachungsvideo an, während er versuchte, die Bilder mit dem in Einklang zu bringen, was er auf den Straßen von Maida Vale gesehen hatte. Da sich jedoch keine Verbindung herstellen ließ, schaltete er irgendwann den Fernseher aus. Als seine Augen sich an das Halbdunkel gewöhnten, erschienen die Bilder von Grigorijs letzten Augenblicken wie Fotos, projiziert auf eine weiße Wand: Grigorij, der in der Harrow Road in ein Auto stieg. Ein gut gekleideter Mann mit einem Stockschirm. Eine Frau in einem kurzen Ledermantel, ohne Hut im Regen. Das letzte Bild wurde zu einem Gemälde, das mit einer schmutzigen Firnisschicht bedeckt war. Gabriel schloss die Augen, tauchte einen Wattebausch in Terpentin und tupfte damit vorsichtig die Oberfläche ab.
Die Antwort fand er eine Stunde vor Tagesanbruch. Er tastete im Halbdunkel nach der Fernbedienung und richtete sie auf den Fernseher. Einige Sekunden später wurde der Bildschirm flimmernd hell. Es war 17.47 Uhr am Dienstag letzter Woche. Grigorij Bulganow stand im Durchgang der Bristol Mews. Um 17.48 Uhr ließ er seine Zigarette fallen und setzte sich in Bewegung.
Er folgte der inzwischen vertrauten Route zum Waterside Café. Um 18:03:37 Uhr erschien das junge Paar exakt nach Plan, der Mann im Trenchcoat mit Gürtel, die Frau im Wollmantel mit Pelzkragen. Gabriel ging zurück und sah sich diese Szene erneut an, dann ein drittes Mal. Danach drückte er die Pausetaste. Der eingespiegelten Zeit nach war es 18:04:25 Uhr, als das Paar das Ende der Westbourne Terrace Road Bridge erreichte. War das Unternehmen gut geplant – und darauf wies alles hin –, war noch reichlich Zeit.
Gabriel spulte zu den letzten dreißig Sekunden des Überwachungsvideos vor und sah sich ein letztes Mal an, wie Grigorij hinten in den Mercedes stieg. Als der Wagen anfuhr, erschien von links ein kleiner, gut gekleideter Mann auf der Bildfläche. Sekunden später folgte ihm die Frau in dem kurzen Ledermantel. Ohne Schirm. Ohne Hut im Regen.
Gabriel hielt den Film an und betrachtete ihre Schuhe.
15 W ESTMINSTER , L ONDON
Auf dem Parliament Square war es bitterkalt, aber nicht kalt genug, um die Demonstranten fernzuhalten. Es fand die unvermeidliche Demonstration gegen die von Israel verübten Verbrechen statt, eine weitere, die den Abzug der Amerikaner aus dem Irak forderte, und eine dritte, die vorhersagte, Südengland werde durch die Erderwärmung bald zu einer Wüste werden. Gabriel überquerte den Platz und setzte sich dem Nordturm der Westminster Abbey gegenüber auf eine freie Bank. Dies war die Bank, auf der er einst darauf gewartet hatte, dass zwei dschihadistische Selbstmordattentäter die Tochter des US-Botschafters in der Abtei ablieferten. Gabriel fragte sich, ob Graham Seymour diesen Treffpunkt absichtlich gewählt hatte oder ob ihm die schlimmen Ereignisse jenes Morgens einfach entfallen waren.
Kurz nach 15 Uhr hielt ein Jaguar mit Chauffeur am Rand des Platzes. Seymour, der einen eleganten Mantel mit verdeckter Knopfleiste trug, stieg hinten aus. Er wartete, bis sein Dienstwagen auf der Victoria Street davonfuhr, bevor er auf die Bank zuging. Diesmal war es Seymour, der zu spät kam.
»Sorry, Gabriel, meine Besprechung beim Premierminister hat länger gedauert als erwartet.«
»Wie geht es ihm?«
»Wenn man bedenkt, dass er der unbeliebteste erste Mann im Staat seit
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