Der Oligarch
beobachtete, wie sie in der Nacht verschwand.
14 W EST L ONDON
Inzwischen hatte Gabriel seit über sechsunddreißig Stunden nicht mehr geschlafen und war völlig erschöpft. Unter normalen Umständen hätte er sich an die hiesige Station gewandt, um sich eine sichere Wohnung anweisen zu lassen. Das konnte er diesmal jedoch nicht, weil Agenten der hiesigen Station vermutlich in diesem Augenblick London verzweifelt nach ihm durchkämmten. Er würde sich ein Hotelzimmer nehmen müssen. Aber keines dieser netten Hotels, die ihre Gäste im PC registrierten, sodass diese mittels einer raffinierten Software zur Datensuche aufgespürt werden konnten. Nein, er brauchte eines dieser Hotels, die Bargeld nahmen und über Wünsche nach Annehmlichkeiten wie Zimmerservice, funktionierende Telefone und saubere Handtücher nur lachten.
Das Grand Hotel Berkshire erfüllte diese Voraussetzungen. Es stand an der West Cromwell Road am Ende einer Reihe mit vernachlässigten Häusern aus der Zeit um die Jahrhundertwende. Der Nachtportier, ein müder Mann in einem müden grauen Pullover, war wenig überrascht, als Gabriel sagte, er habe keine Reservierung, und noch weniger, als er ankündigte, er werde seine Rechnung – drei Nächte, vielleicht nur zwei, wenn seine Geschäfte gut liefen – in bar bezahlen. Gabriel legte dem Portier zwei druckfrische Zwanzigpfundscheine hin und sagte, er erwarte keinen Besuch und wünsche nicht, durch Anrufe oder von Zimmermädchen gestört zu werden. Der Nachtportier steckte das Geld ein und versprach Gabriel, er werde hier ungestört und sicher wohnen. Gabriel wünschte ihm einen schönen Abend und ging allein in sein Zimmer hinauf.
Das Zimmer im zweiten Stock mit Blick auf die viel befahrene Straße stank nach Einsamkeit und dem grässlichen Rasierwasser des vorigen Bewohners. Als Gabriel die Tür hinter sich zumachte, überflutete ihn eine Welle jäher Depression. Wie viele Nächte hatte er schon in Zimmern genau wie diesem verbracht? Vielleicht hatte Chiara recht. Vielleicht wurde es Zeit, den Dienst zu verlassen und das Kämpfen anderen Männern zu überlassen. Er würde sich in die Hügel Umbriens zurückziehen und seiner neuen Frau das Kind schenken, das sie sich so sehr wünschte – das Kind, das er sich bisher wegen der Tragödie, die sich in einem anderen Leben in einer Winternacht in Wien ereignet hatte, versagt hatte. Er hatte dieses andere Leben nicht selbst gewählt gehabt. Er war von anderen dazu bestimmt worden. Er war von Jassir Arafat und einer unter dem Namen »Schwarzer September« bekannten palästinensischen Terrororganisation dazu bestimmt worden. Und er war von Ari Schamron dazu bestimmt worden.
Schamron hatte ihn im September 1972 an einem brütend heißen Septembertag in Jerusalem aufgesucht. Gabriel war ein vielversprechender junger Maler gewesen, der den Dienst in einer Eliteeinheit der israelischen Armee quittiert hatte, um sein Studium an der Kunstakademie Bezalel fortzusetzen. Schamron hatte soeben von Ministerpräsidentin Golda Meir den Auftrag erhalten, im Rahmen des Unternehmens »Zorn Gottes« die Mitglieder des Schwarzen Septembers, die das Olympiamassaker von München verübt hatten, aufzuspüren und zu liquidieren. Er brauchte ein Werkzeug der Rache, und Gabriel entsprach genau dem Typ eines jungen Mannes, den er suchte: ungestüm und dennoch intelligent, loyal und dennoch unabhängig, ein kühler Kopf und dennoch von Natur aus anständig. Außerdem sprach er fließend Deutsch – im Berliner Tonfall seiner Mutter – und hatte als Kind halb Europa bereist.
Nach einmonatiger Intensivausbildung schickte Schamron ihn nach Rom, wo Gabriel einen Mann namens Wadal Abdel Zwaiter in einem Hausflur an der Piazza Annibaliano erschoss. Sein Agententeam und er brachten die folgenden drei Jahre damit zu, weitere Zielpersonen in Westeuropa aufzuspüren, sie nachts und am helllichten Tag zu liquidieren und in ständiger Angst davor zu leben, von der Polizei verhaftet und als Mörder vor Gericht gestellt zu werden.
Als Gabriel endlich wieder heimkehrte, hatte er aschgraue Schläfen und das Gesicht eines Mannes, der über Nacht um zwanzig Jahre gealtert war. Leah, die er kurz vor seiner Abreise aus Israel geheiratet hatte, erkannte ihn kaum wieder, als er ihre Wohnung betrat. Die hochbegabte Malerin bat ihn, ihr für ein Porträt Modell zu sitzen. Dieses in Egon Schieles Manier gemalte Bild zeigte einen gehetzten jungen Mann, den der Schatten des Todes frühzeitig hatte
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