Der Oligarch
Hose und elegante schwarze Stiefel. Ihr früher langes und flachsblondes Haar war kurz und aschblond gefärbt. Ihr Gesicht schien jedoch unverändert. Es war eines der schönsten Gesichter, die Gabriel je gesehen hatte: heroisch, verletzlich, tugendhaft. Das Gesicht einer zum Leben erwachten russischen Ikone. Das Gesicht Russlands.
Bis vor einem halben Jahr hatte Olga Suchowa einen der gefährlichsten Berufe der Welt ausgeübt: Sie war russische Journalistin gewesen. Als Mitarbeiterin der Moskowskaja Gaseta, einer kämpferischen Wochenzeitschrift, hatte sie die Gräueltaten der Roten Armee in Tschetschenien enthüllt, Korruption in höchsten Kremlkreisen angeprangert und unerschrocken die Anschläge des russischen Präsidenten auf die Demokratie kritisiert. Ihre Erfahrung als Berichterstatterin hatten sie gegenüber ihrem Land und seiner Zukunft skeptisch werden lassen, aber nichts hatte sie auf die wichtigste Entdeckung ihres Lebens vorbereitet: auf einen Oligarchen und Waffenhändler namens Iwan Charkow, der im Begriff gewesen war, der al-Qaida einige der modernsten russischen Waffen zu verkaufen.
Obwohl die Gaseta diese Story nie gebracht hatte, waren zwei von Olgas Kollegen ermordet worden. Der erste, Alexandr Lubin, wurde in einem Hotelzimmer in dem französischen Wintersportort Courchevel erstochen. Der zweite, ein Redakteur namens Boris Ostrowskij, wurde vergiftet und starb auf dem Fußboden des Petersdoms in Gabriels Armen. Wären Grigorij Bulganow und Gabriel nicht gewesen, wäre sicherlich auch Olga Suchowa ermordet worden.
Olgas gefährliche Arbeit und die dauernde Lebensgefahr, in der sie schwebte, hatten bewirkt, dass sie sich sämtliche Tricks eines erfahrenen Spions angeeignet hatte. Wie Gabriel setzte sie voraus, dass jeder Raum, auch die Zimmer ihrer eigenen Wohnung, verwanzt war. Wichtige Gespräche wurden am besten an öffentlichen Orten geführt. Was die Erklärung dafür war, dass die beiden fünf Minuten nach Gabriels Ankunft auf der windigen St. Clement’s Street unterwegs waren. Gabriel hörte das Klappern ihrer Stiefelabsätze auf dem Gehsteig und erinnerte sich an einen wolkenverhangenen Nachmittag in Moskau, als sie auf dem Nowodewitschi-Friedhof – von sich abwechselnden russischen Bewachern beschattet – durch die Gräberreihen gegangen waren. Vielleicht sollten Sie mich jetzt küssen, Mr. Golani. Es ist besser, wenn der FSB den Eindruck hat, dass wir uns ineinander verlieben.
»Fehlt es Ihnen?«, fragte er.
»Moskau?« Olga lächelte traurig. »Es fehlt mir schrecklich. Der Lärm. Die Gerüche. Das Verkehrschaos. Manchmal sehne ich mich sogar nach dem Schnee. Der Januar ist fast vorüber – ohne eine einzige Schneeflocke. Die Meteorologin der BBC spricht von einem Kälteeinbruch. In Moskau würden wir das Frühling nennen.« Sie sah ihn an. »Schneit es in Oxford überhaupt jemals?«
»Selbst dann wär es nicht wie zu Hause.«
»Nichts ist wie zu Hause. Oxford ist eine hübsche Stadt, aber ich gestehe, dass sie mir ziemlich langweilig vorkommt. Moskau hat viele Probleme, aber wenigstens ist es nie langweilig. Für Sie ist das vielleicht schwer zu verstehen, aber ich sehne mich verzweifelt nach meiner Arbeit als russische Journalistin.«
»Eine sehr kluge und schöne Frau hat mir einmal erzählt, in Russland gebe es keinen Journalismus – zumindest keinen richtigen.«
»Das stimmt. Das Regime hat es geschafft, alle kritischen Journalisten mundtot zu machen, nicht durch offene Zensur, sondern durch Mord, Einschüchterung und erzwungene Besitzwechsel. Die Gaseta ist jetzt nur noch ein Skandalblättchen mit Berichten über Popstars, Besucher aus dem Weltraum und Werwölfe, die in den Wäldern um Moskau hausen. Und die Auflage ist in ungeahnte Höhen geklettert.«
»Wenigstens wird niemand mehr ermordet.«
»Richtig. Den armen Boris hat’s als Letzten erwischt.«
Sie drückte melancholisch Gabriels Arm. »Allerdings bin ich letzten Monat auf der Website der Gaseta an einer Story über Charkow hängen geblieben. Er war auf der Eröffnungsparty eines neuen Moskauer Restaurants. Seine neue Frau Jekatarina war hinreißend wie immer. Auch Charkow sah recht gut aus. Er war braun gebrannt.« Sie runzelte scheinbar nachdenklich die Stirn. »Wie ist Charkow wohl mitten im russischen Winter zu seiner Sommerbräune gekommen? Auf einer dieser Sonnenbänke? Nein, das glaube ich nicht. Charkow gehört nicht zu den Leuten, die sich künstlich bräunen lassen. Früher hat er sich seine
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