Der Oligarch
«
»Irina Josifowna Bulganowa, geschiedene Frau des Überläufers Grigorij Nikolajewitsch Bulganow, ehemals beim russischen Föderalen Sicherheitsdienst?«
»Ja, das stimmt. «
»Irina Josifowna Bulganowa, Verräterin und Spionin für Feinde der Russischen Föderation?«
»Ich weiß nicht, wovon Sie reden. «
»Ich denke schon. Ich denke, dass Sie genau wissen, wovon ich rede. «
Olga sah von ihrem Bildschirm auf. »Vielleicht sollte er sie nicht so hart anfassen. Die arme Frau ist zu Tode erschrocken.«
Gabriel gab keine Antwort. Später würde Michail den Druck vielleicht verringern können. Aber nicht schon jetzt. Erst brauchten sie Antworten auf ein paar Fragen. War sie Charkows Komplizin oder Charkows Opfer? Hatte der Himmel sie geschickt oder hatten sie einen Agenten des Teufels in ihrer Mitte?
26 C OMER S EE , I TALIEN
»Wer sind Sie?«, fragte Irina.
»Wenn Sie mir unbedingt einen Namen geben wollen, können Sie mich Jewgenij nennen.«
»Für wen arbeiten Sie?«
»Das ist nicht wichtig.«
»Sie sind Russe?«
»Auch das tut nichts zur Sache. Wichtig ist dagegen Ihr Reisepass. Als Bürgerin der Russischen Föderation dürfen Sie nur nach Großbritannien einreisen, wenn Sie zuvor ein Visum beantragt und erhalten haben. Bitte erklären Sie mir, wie Sie dort ohne Visum in Ihrem Pass einreisen konnten.«
»Ich bin in meinem Leben noch nie in Großbritannien gewesen.«
»Sie lügen, Irina Josifowna.«
»Ich sage die Wahrheit. Sie haben es gerade selbst festgestellt. Russen brauchen ein Visum, um England besuchen zu dürfen. Mein Pass enthält kein englisches Visum. Folglich bin ich nie dort gewesen.«
»Aber Sie waren Anfang des Monats in London, um bei der Entführung Ihres früheren Ehemanns, Oberst Grigorij Nikolajewitsch Bulganow, ehemals beim Föderalen Sicherheitsdienst, mitzuhelfen.«
»Das ist eine lächerliche Anschuldigung!«
»Sie haben mit Ihrem früheren Mann in Verbindung gestanden, auch nachdem er nach Großbritannien desertiert war?«
Sie zögerte, dann antwortete sie wahrheitsgemäß. »Ja, das stimmt.«
»Sie haben mit ihm über eine mögliche Versöhnung gesprochen. Über einen Neubeginn. Vielleicht über eine Wiederheirat.«
»Das geht Sie nichts an.«
»Mich geht alles etwas an. Beantworten Sie jetzt meine Fragen. Grigorij wollte, dass Sie nach London kommen?«
»Ich habe nie irgendeiner Sache zugestimmt.«
»Aber Sie haben darüber geredet. «
»Ich habe nur zugehört.«
»Ihr früherer Mann ist ein Deserteur, Irina Josifowna. Verbindung mit ihm zu haben, ist Landesverrat.«
»Grigorij hat Kontakt zu mir aufgenommen. Ich habe nichts Unrechtes getan.«
Sie leistete hinhaltenden Widerstand. Gabriel hatte Michail auf dieses Szenario vorbereitet. Gabriel hatte ihn auf alles vorbereitet. Jetzt musst du mit der Peitsche knallen, dachte er, lass sie spüren, dass du es ernst meinst.
Michail legte drei Blatt Papier vor sich auf den Tisch.
»Wo waren Sie am zehnten und elften Januar?«
»Ich war in Moskau.«
»Ich will meine Frage wiederholen. Überlegen Sie sorgfältig, bevor Sie antworten. Wo waren Sie am zehnten und elften Januar?«
Irina schwieg. Michail tippte auf das erste Blatt Papier.
»Der Terminkalender in Ihrem Computer enthält für diese beiden Tage keine Eintragungen. Keine Besprechungen. Kein Arbeitsessen. Keine Rückrufe bei Kunden.«
»Im Januar geht das Geschäft immer schleppend. Und dieses Jahr ist es wegen der Rezession …«
Michail schnitt ihr mit einer knappen Handbewegung das Wort ab und deutete auf das zweite Blatt.
»Ihre gespeicherten Telefondaten zeigen, dass Sie an die vierzig Mal auf Ihrem Handy angerufen worden sind, aber nie selbst telefoniert haben.«
Als sie dazu schwieg, tippte er auf das dritte Blatt Papier.
»Ihr Mail-Account sieht ähnlich aus: viele empfangene Mails, keine verschickten. Haben Sie dafür eine Erklärung?«
»Nein.«
Michail nahm einen braunen Umschlag aus dem Aktenkoffer, der neben ihm auf dem Fußboden stand. Nachdem er die Verschlussklappe mit feierlichem Ernst geöffnet hatte, zog er ein großes Foto heraus, auf dem Oberst Grigorij Bulganow am 10. Januar um 18.12 Uhr auf der Londoner Harrow Road in einen Mercedes steigt. Er fasste es vorsichtig an den Rändern an, als sei das Foto ein wichtiges Beweisstück, das nicht beschädigt werden dürfe, und drehte es um, damit Irina es sehen konnte. Sie schaffte es, weiter stoisch zu schweigen, aber ihr Gesichtsausdruck hatte sich verändert. Gabriel, der ihr
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