Der Oligarch
folgen. Nicht erwähnt wurde in der Mail, dass sich dieses Material schon in Moskau befand und von einem fiktiven Kurierdienst zugestellt werden würde. Ebenfalls unerwähnt blieb die Tatsache, dass Frau Bulganowa überwacht werden würde, damit sichergestellt wäre, dass Iwan Charkows Leute sie nicht beschatteten. Die Mail enthielt nur eine Bitte: die einer umgehenden Antwort, damit bei einer Absage der Platz anderweitig vergeben werden könnte.
Zum Glück trat dieser Fall nicht ein, denn nach sieben Stunden und zwölf Minuten kam aus Moskau eine Zusage. Der Jubel in der Villa Teresa war ausgelassen, aber nur kurz. Irina Bulganowa kam nach Italien. Und sie hatten noch viel zu tun.
Bei jedem Unternehmen, sagte Schamron gern, gibt es einen Engpass. Steuert man glücklich hindurch, gelangt man in offenes Wasser. Kommt man jedoch nur wenige Grade vom Kurs ab, kann man in Untiefen auf Grund laufen oder – noch schlimmer – an Klippen zerschellen. Bei diesem Unternehmen war der Engpass ausgerechnet Irina Bulganowa selbst. Vorläufig wusste niemand, ob sie ein Geschenk des Himmels oder der Teufel in Person war. Wenn sie geschickt mit ihr umgingen, konnte dieses Unternehmen zu einem der größten Erfolge des Teams werden. Wenn sie aber auch nur einen einzigen Fehler machten, konnte sie ihnen allen den Tod bringen.
Sie probten, als hinge ihr Leben davon ab. Weil Michail besser Russisch sprach als Eli Lavon, sollte er trotz seiner Jugend als Hauptbefrager fungieren. Lavon, der von Natur aus freundlicher und umgänglicher wirkte, würde die Rolle des weisen Wohltäters spielen. Die einzige Variable war natürlich Irina selbst. Olga half ihnen, sich auf alle Eventualitäten vorzubereiten. Unter Gabriels Anleitung war sie mal verängstigt, mal aggressiv. Sie beschimpfte die beiden wüst, brach in Tränen aus, schwor im nächsten Augenblick, kein Wort mehr zu sagen, und bekam erstaunlich echt wirkende Wutanfälle. Am letzten Abend waren Michail und Lavon zuversichtlich, auf jede mögliche Version Irinas vorbereitet zu sein. Jetzt fehlte nur noch der Star der Show.
Aber war sie Charkows Komplizin oder Charkows Opfer? Diese Frage, die alle von Anfang an beschäftigt hatte, beherrschte auch in der letzten langen Nacht des Wartens ihre Gedanken. Gabriel machte klar, dass er an Irina glaubte, aber er gab auch schnell zu, dass sein Vertrauen sicherlich etwas mit seiner bekannten Vorliebe für russische Frauen zu tun hatte. Die Frauen, sagte er wieder und wieder, seien Russlands einzige Hoffnung. Andere Mitglieder des Teams, vor allem Jaakov, sahen die kommenden Ereignisse weit weniger optimistisch. Jaakov, der die Menschen von ihrer schlechtesten Seite kannte, fürchtete, eine Agentin Charkows aufzunehmen. Allein die Tatsache, dass sie noch lebe, argumentierte er, beweise ihre Falschheit. »Würde Irina zu den Guten gehören, hätte Charkow sie längst ermordet«, sagte er. »Das tut Charkow immer.«
Mit Hilfe ihrer Leute in Moskau und am King Saul Boulevard verfolgten sie Irinas Reisevorbereitungen und klopften sie auf Anzeichen von Verrat ab. Am Abend vor ihrer Abreise hörten sie zwei Telefongespräche mit – eines mit einer alten Freundin, das andere mit ihrer Mutter. Sie hörten ihren Wecker zu unchristlicher Zeit um 2.30 Uhr klingeln – und zehn Minuten später noch einmal, als sie schon unter der Dusche stand. Und um 3.05 Uhr erlebten sie ihr Temperament, als sie sich am Telefon beschwerte, weil das bestellte Taxi nicht gekommen war. Michail, der den Anruf über eine sichere Verbindung mithörte, weigerte sich, ihn für den Rest des Teams zu übersetzen. Wenn Irina keine preisgekrönte Schauspielerin war, sagte er, sei ihr Wutanfall echt gewesen.
Wie sich zeigte, kam das Taxi nur eine Viertelstunde zu spät, was für Ende Januar beachtlich war, und setzte Irina um 3.45 Uhr am Flughafen Scheremetjewo ab. Schmuel Peled, ein Agent der Station Moskau, sah sie flüchtig, als sie verärgert ausstieg und ins Terminal hastete. Ihre Maschine, Flug Nummer 606 der Austrian Airlines, startete pünktlich und landete um 6.47 Uhr Ortszeit auf dem Wiener Flughafen Schwechat. Dina, die am Vorabend in die österreichische Hauptstadt geflogen war, wartete dort bereits, als Irina aus der Fluggastbrücke kam, und folgte ihr mit reichlich Abstand zum nächsten Gate. An Bord saßen sie in der ersten Klasse in derselben Reihe: Irina auf Platz 3C am Gang, Dina auf 3A am Fenster. Nach der Landung in Mailand schickte Dina Gabriel eine SMS.
Weitere Kostenlose Bücher