Der Olivenhain
Kidron in meiner Klasse. Er und Michael Keller haben mich ziemlich getriezt …«
»Wussten Sie, dass ich Michael später geheiratet habe? Er ist inzwischen schon seit zwanzig Jahren tot.«
Sie tauschten ihre Geschichten aus, und dann, in einer Gesprächspause, strich sich Anna durch die stahlgrauen Haare, die außer ihr niemand in der Familie hatte.
»Du siehst wahrscheinlich deinen Leuten ähnlich«, sagte die einstige Lehrerin.
»Meine Mutter hat erzählt, dass eine ihrer Großmütter einen Italiener geheiratet hat, daher …«
»Ich weiß von deinem Vater, dass du ein Mischling bist. Du musst mich also nicht an …«
Anna sah sofort weg und starrte dann auf ihre Uhr. Nie hätte sie es für möglich gehalten, dass ihr Vater dieses Wort in den Mund genommen hatte. Wealthy hatte es ihr manchmal zugezischt, nachts vor dem Einschlafen, wenn sie ihn wieder einmal beim Buchstabieren oder Klettern übertrumpft hatte. Doch sie hatte sich stets geweigert, seinen spöttischen Bemerkungen Beachtung zu schenken.
Miss Dupont rieb ihre Narben, die sich purpurn verfärbten, wenn sie errötete. »Es war damals im Krankenhaus, als wir dich nirgends finden konnten und schon dachten, du wärst auch tot, so wie Violet.« Sie redete weiter, doch als sie langsam auf den Höhepunkt der Geschichte zusteuerte, wie Anna plötzlich nass und voller Schlamm mit den Lindsey-Jungs wieder aufgetaucht war, versagte ihre Stimme.
Anna nahm den Schluss vorweg: »Meine Mutter hat mir erst eine geklebt und hinterher allen erklärt, dass ich die Schule schwänzen dürfte, wann immer ich wollte.«
Miss Dupont fing an zu weinen. »Aber du bist nie mehr in die Schule zurückgekehrt. Keiner von uns.«
Mischling . Bis Miss Dupont dieses Wort ausgesprochen hatte, wusste sie nicht einmal mehr, wie es klang. Nun schwirrte es in ihrem Kopf herum und brachte längst Vergessenes ans Licht. Mit acht oder neun Jahren hatte sie ihren Bruder einmal beim Wettrennen besiegt. Damals spuckte er vor ihr aus und zischte, sie sei ja bloß ein blöder Mischling. Anna hasste Veränderungen. Violet wäre sicher der Typ Frau gewesen, der Wealthy sofort zur Rede gestellt hätte, um die Wahrheit zu erfahren, Anna nicht.
Zwei Jahre bevor er bei einem Minenunglück ums Leben kam, war Wealthy 1941 zu Weihnachten in Hill House erschienen. Sein rotes Haar war schlohweiß und der Schnurrbart nikotingelb, sein Gesicht wettergegerbt und faltig, weil er bei seiner Arbeit in der sengenden Hitze nie einen Hut getragen hatte. Er schien noch klar im Kopf, doch manchmal verwechselte er Bets mit Anna oder fragte, wann Michael zurückerwartet wurde. In einer windstillen, eiskalten Nacht zwischen den Jahren wanderten sie durch den Olivenhain und strichen ab und zu sanft mit den Fingern über die graugrünen Blätter der Bäume.
Sie hatte Angst, ihn nach der Vergangenheit zu fragen, denn sie befürchtete, dass dies alles, was sie bisher geglaubt hatte, verändern würde. Doch in der Nacht, als sie alte Geschichten über Kidron, die Eltern und Violet austauschten, schien sich die Zeit aufzulösen, und Anna wusste, dass, ganz gleich, was Wealthy antworten würde, es im Grunde nur bestätigen würde, was sie immer gespürt hatte: dass nämlich die Wahrheit und ihre Lebensgeschichte nichts miteinander zu tun hatten. Sie hatte weder die irische Blässe noch die Kränklichkeit von ihrer Mutter; sie war zehn Zentimeter größer als ihr Vater, stärker als ihr Bruder und hatte dichte schwarze Locken und einen sehr dunklen, olivfarbenen Teint. Sie dachte, sie sei vielleicht das Kind von niemandem, doch Wealthy sagte ihr, sie sei die echte Tochter ihres Vaters, aber auch wenn Mims sie geliebt habe wie ihr eigenes Kind, habe sie sie nicht zur Welt gebracht.
»Ich würde dir gern mehr erzählen, aber ich habe kaum noch Erinnerungen«, hatte Wealthy damals gesagt, als sie schließlich in dicke Wolldecken gehüllt auf der nächtlichen Veranda saßen. »Als junger Bursche schien es mir wichtig, dass es da einen Unterschied zwischen uns gab, aber je älter ich wurde, desto unwichtiger wurde es, und irgendwann spielte es keine Rolle mehr.«
Anna drängte ihn, zu berichten, was er sonst noch wusste. Er erzählte, dass er sich erinnern konnte, wie sie auf einer Schildkröte ritt und sich in der Nähe des Feuers herumtrieb, an dem die Frauen in Brisbane die Wäsche kochten. Das war noch, bevor sie mit ihnen aufs Schiff ging.
»Früher waren die Erinnerungen klarer«, sagte er und klagte über sein
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