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Der Olivenhain

Der Olivenhain

Titel: Der Olivenhain Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Courtney Miller Santo
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dass ihr Bruder nur knapp die Gouverneurswahl verloren hatte, und so weiter und so fort.
    Die Briefe kamen jedes Jahr, sie erfand immer neue Geschichten um zu beschreiben, wie jene, die damals im Feuer umkamen, heil aus Kriegen zurückkehrten oder schreckliche Krankheiten besiegten und nun glücklich bis an ihr Lebensende weiterlebten. Wenn die Eltern gestorben waren, erhielten fortan die Geschwister Post, im Falle von George Lee, der ein Einzelkind war, schickte sie die Briefe sogar an einen entfernten Vetter in Arkansas, der mit Georges Teil der Familie nie etwas zu tun gehabt hatte. Es endete erst mit Miss Duponts Tod im Jahr 1972. Einen Monat nach ihrer Beerdigung erhielt jede Familie noch einmal einen Nachruf auf ihr Kind, ebenfalls verfasst von Miss Dupont. Manche Angehörigen öffneten die Briefe nie, auch Annas Eltern verweigerten sich stets. Doch als der Nachruf auf Violet ankam, hatte Anna die anderen Briefe schon geöffnet.
    Zehn Jahre vor deren Tod hatte Anna Miss Dupont einmal in Illinois besucht. Damals war Callie nach Chicago gezogen, um am O’Hare-Flughafen bei United Airlines ihre Ausbildung zur Stewardess zu absolvieren. Ihre Eltern Bets und Frank waren stark eingespannt auf der nunmehr auf dreihundert Morgen angewachsenen Plantage und baten deshalb Anna, Callie nach Chicago zu begleiten. Die Zugfahrt war ziemlich anstrengend, nicht nur, weil sie wegen einer Panne zwei Tage in Nebraska festsaßen, sondern vor allem, weil Callie die Reise lieber ohne Anstandsdame angetreten hätte. Die meiste Zeit hockten sie nur schweigend nebeneinander, doch als Callie dann im Wohnheim Abschied nehmen musste, drückte sie ihre Großmutter fest und flüsterte: »Danke dir.«
    Danach ließ sich Anna in einem Taxi zu einem Vorort im Süden Chicagos chauffieren, um mit Miss Dupont in ihrem kleinen Backsteinhaus Kaffee zu trinken. Die Brandnarben waren noch immer deutlich zu sehen, sie zogen sich wie eine Ranke vom Arm über den Hals bis zum Kinn und hoch zum linken Auge. Als Anna, die schon in den Siebzigern war, endlich den Blick von den Narben abwendete, fiel ihr auf, wie sehr die Zeit den Altersunterschied zwischen ihnen verwischt hatte. Miss Duponts Haut war so faltig wie Annas, und ihre Augen waren genauso rot umrandet und wässrig wie die ihren. Sie aßen Annas mit Paprika gefüllte Oliven und sprachen darüber, wie klein die Welt doch war, seit die Menschen den Luftraum erobert hatten.
    Dann sprachen sie über gute und schlechte Zeiten und beklagten das fortschreitende Alter, das sich irgendwann heimlich von hinten angeschlichen hatte. Sie umschifften das Thema Familie, weil keine von ihnen wusste, wie sie von den Enkeln und Urenkeln reden sollten, ohne Violet zu erwähnen. Erst als sich Anna entspannt in ein Sofakissen zurücklehnte, fing Miss Dupont an, von ihren eigenen Kindern zu erzählen.
    Miss Dupont hatte drei Ehemänner überlebt, mit denen sie insgesamt neun Kinder hatte. Sie zählte die Enkel auf und zeigte ab und zu auf eins der Bilder auf dem Kaminsims. »Das macht insgesamt siebenunddreißig, also mehr, als ich damals in den Flammen verloren habe. Aber die Schuld ist nicht zu begleichen, denn ich fürchte, Gott nimmt meine nicht als Ersatz an.« Wortlos starrten die beiden grauhaarigen Frauen auf die Kinderfotos. Schließlich tätschelte Miss Dupont Annas Hand. »Deine Schwester war wunderschön, sie sah aus wie ein kleiner Botticelli-Engel.«
    »Violet sah meiner Mutter sehr ähnlich. Ich habe oft beobachtet, wie die beiden Spiegelbild spielten. Dann saßen sie sich gegenüber und machten die Gesten und Mimik der anderen nach. Ich habe immer gehofft, auch etwas von mir in ihnen zu entdecken, doch ich erkannte nichts wieder, keine Geste, nicht die kleinste Sommersprosse hatte ich mit ihnen gemeinsam. Erst nachdem Violet tot war, fiel mir auf, dass sie wenigstens den Akzent meiner Mutter nicht von ihr übernommen hatte.«
    »Ich habe mich damals immer gewundert, warum du nicht redest wie die anderen Kinder in Kidron. Wealthy hat seinen Akzent früh abgelegt, jedoch den italienischen Tonfall der Lindseys angenommen.«
    »Mein Bruder war ein Chamäleon. Egal, neben wem er stand, man hatte sofort den Eindruck, er sei mit den Leuten verwandt, weil er einfach nachplapperte, was er hörte. Mum hat mir mal erzählt, dass er in Brisbane vom Bett aus die Vögel draußen nachahmte, als er krank war. Anscheinend gelang ihm das so gut, dass er damit Wildvögel ans Fenster locken konnte.«
    »Er war damals in

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