Der Olivenhain
nachlassendes Gedächtnis. Er sah sie dabei so gequält an, dass sie ihm sanft bedeutete zu schweigen. Danach waren beide lange still, und später fragte Wealthy, wo Michael blieb.
»Er ist schon länger tot, als wir je verheiratet waren.«
Er lachte und bat sie, ihm ihr Geheimnis zu verraten. »Du hast überhaupt keine Alterserscheinungen. Alle anderen werden mit der Zeit langsamer, verlieren die Sehkraft und verhelfen den Ärzten durch ihre Krankheiten und Zipperlein zu schicken Cadillacs. Aber du? Du hast kaum Falten und bist so beweglich wie eh und je.«
»Das Geheimnis wüsste ich selbst gern«, hatte Anna erwidert.
Niemand erfuhr je von diesem Gespräch mit Wealthy. Sie hatte Angst, ihm zu glauben, und mit den Jahren schob sie diese Erinnerung in immer dunklere Regionen ihres Bewusstseins, bis sie selbst glaubte, sich an nichts mehr erinnern zu können. Nun kniff sie die Augen zusammen, sah auf die Bögen mit den Fragen nach ihrer Familie, ihren Essgewohnheiten und danach, wie lange sie sich als Kind normalerweise in der Sonne aufgehalten hatte, und plötzlich spürte sie ein Frösteln. Keines ihrer Kinder und Kindeskinder vermutete Unregelmäßigkeiten in ihrer Abstammungsgeschichte. Für sie alle führte eine gerade Linie von Erin zurück zu Mims.
Anna schüttelte den Kopf. Die Kellers waren überhaupt nichts Besonderes, ganz gleich, was Callie dachte. Sie waren ganz normale Frauen mit ganz normalen Lebensgeschichten. Für Wealthys Behauptung hatte sie nie einen Beweis gefunden, nur ein vergilbtes Billett, das man bei der Einwanderungsbehörde an ihrem Mantel befestigt hatte und eine eidesstattliche Erklärung der Eltern, dass sie am 18. Januar 1894 in Brisbane geboren war, auch wenn sie es nicht belegen konnten. Das reichte Anna.
6.
Eine von sieben Millionen
D o ktor Hashmi wollte Anna am nächsten Morgen befragen, und sie hatten das Haus für sich alleine. Bets und Bobo waren ins Altersheim aufgebrochen, um Frank zu besuchen, und Callie hatte Erin gebeten, ihr bei der Inventur im Pit Stop zu helfen, ihrem kleinen Feinkostladen.
Das letzte Mal war Anna allein mit einem Mann im Haus gewesen, als ein Elektriker nach einem schweren Frühjahrssturm neue Kabel spannen musste. Der junge Mann ertappte sie dabei, wie sie ihn auf der Leiter beobachtete, und als sie später die Rechnung unterzeichnen sollte, wich sie seinem Blick aus und musste kichern.
Die Männer nahmen sie nicht mehr wahr, seit ihr jüngster Sohn Timothy geheiratet hatte. Die Hochzeit wurde pompös im Ballsaal des »Fairmont« in San Francisco gefeiert. Damals war Michael bereits seit zwei Jahren tot, und wenn man Anna fragte, warum sie nie wieder geheiratet hatte, erwiderte sie stets, dass die Männer rar geworden waren, als sie die Trauer um Michael endlich überwunden hatte. Viele waren im Krieg umgekommen, darunter auch zwei ihrer Söhne. Blutjunge Mädchen warfen sich damals alten Witwern an den Hals, und picklige Grünschnäbel zogen triumphierend die Blicke reifer Frauen auf sich.
Anna stellte Cracker und Oliven bereit. Sie war besorgt, weil Callie offenbar an Doktor Hashmi Gefallen fand. Er war der Typ Mann, den junge Frauen umschwärmten, und angesichts dieser Konkurrenz sah sie für ihre Enkelin kaum eine richtige Chance. Es klingelte. Anna stieß das Glas mit den Oliven um und ärgerte sich im selben Moment über ihre Schusseligkeit. Schnell warf sie ein Handtuch darüber und eilte zur Tür.
Doktor Hashmi sah noch genau so aus wie am Tag zuvor. Mit nach unten gerichteter Handfläche streckte er den Arm aus, und Anna packte sie mehr, als dass sie sie schüttelte. Weich und zart fühlte sie sich an, wie die Hand einer Frau.
»Ich hoffe, ich komme nicht ungelegen.«
»Nein, keinesfalls. Ich habe nur eben in der Küche ein Glas Oliven umgeworfen und musste die …«
Er erhob beide Hände. »Sie sind immer noch außerordentlich beweglich, das habe ich nicht gemeint. Ich wollte nur sichergehen, dass die anderen außer Haus sind.«
Als er im Wohnzimmer Spritzen und weitere Utensilien zur Blutabnahme aus seinem Koffer holte und auf dem Couchtisch zurechtlegte, berichtete Anna von der Inventur und Bets’ Besuch im Seniorenheim. Dann aß er ein paar Oliven und stellte ihr Fragen über den Hain.
»Früher hatten wir mehrere Hundert Morgen Land, doch mit jeder neuen Generation wurden die Parzellen kleiner, zuerst halbiert, dann geviertelt, und nun besitzen wir noch etwa fünfzig Morgen.« Sie deutete zum Fenster. Die Vorhänge
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