Der Olivenhain
Hundertzehnjährigen, die ich kenne, schlafen während der Erläuterung des Fragebogens ein, oft schon nach der ersten Seite.«
Durch sein Lob ließ sich Anna erweichen, und sie gab zu, etwas müde zu sein. »Aber ich mache nie ein Nickerchen, auch wenn das alle glauben. Ich schließe nur die Augen, um meine Energie zu bündeln. Was um mich herum passiert, merke ich trotzdem. Meine verbleibende Lebenszeit ist zu kurz, um irgendetwas zu verpassen.«
»Wie die Braunbären. Es ist ein weit verbreiteter Irrtum, dass sie Winterschlaf halten, denn sie schlafen nicht, sie fahren nur ihren Energiehaushalt herunter.« Er drückte noch immer ihre Hand. »Ich werde Sie nun ruhen lassen. Sagen Sie mir nur, wann ich für die Befragung wiederkommen darf. Ich würde gern einzeln mit jeder von Ihnen reden, natürlich auch mit Deb.«
Mit Mims gelber Keksdose im Arm erschien Erin in der Tür. Anna betrachtete ihren Bauch. Als sie so im Türrahmen stand und die Nachmittagssonne ihr schwarzes Haar fast violett schimmern ließ, erinnerte sie Anna an ihre Schwester Violet. So hätte sie vermutlich ausgesehen, wenn sie lange genug gelebt hätte, um zur Frau heranzureifen.
Ihre Ururenkelin kaute an einem Erdnussbutterkeks und lächelte dann zu Doktor Hashmi hinüber. »Sie können mich nach Chowchilla begleiten. Meine Mutter hat einen neuen Antrag auf vorzeitige Haftentlassung gestellt, und ich wollte mal sehen, ob ich sie bei der Anhörung unterstützen kann.«
5.
Violet
A n nas kleine Schwester kam im Oktober 1900 auf die Welt. Nachdem ihr Vater den Umzug des Dorfes geregelt hatte, stellten ihm die Anleger genügend Geld zur Verfügung, um für seine Familie ein Haus zu bauen. Als Mims’ Wehen einsetzten, war der Putz noch nicht trocken und kein Fußboden verlegt, aber man brachte sie trotzdem ins Haus, und so war Violet Philomena Davison der erste Mensch, der in Hill House das Licht der Welt erblickte.
Seit ihrer Geburt schien das Glück auf der Seite der Davisons zu stehen, denn in den frühen Jahren des neuen Jahrhunderts gediehen die Olivenbäume prächtig und die Grundstücke waren rasch verkauft. Bis zu Violets drittem Geburtstag hatten die Anleger drei weiteren Ranchbesitzern und zwei Futterkleefarmern Ackerland abgekauft, und die Maywood-Kolonie erstreckte sich mittlerweile auf vierzigtausend Morgen. Die Lindseys, eine der ersten Familien in der Kolonie, kauften ein Grundstück an Kidrons alter Hauptstraße und gründeten eine Genossenschaft zur Verarbeitung des Olivenöls.
Bis zu ihrem dreizehnten Lebensjahr gab es für Anna eigentlich nur einen richtigen Tiefpunkt, als nämlich ihr Bruder Wealthy das Angebot des Vaters, ihm ein eigenes Grundstück zu kaufen, einfach ausschlug und eine Zugfahrkarte nach Texas löste, um dort sein Glück zu versuchen. Ihr Vater weigerte sich, ihn zum Bahnhof zu bringen, und untersagte allen anderen strikt, ihm auch nur nachzuwinken.
Anna mochte ihren Bruder, und noch dazu hatte er wie sie immer noch einen starken australischen Dialekt. Also schwänzte sie am Tag von Wealthys Abreise die Schule und lief trotz des Verbots zum Bahnhof. Sie entdeckte ihren Bruder sofort, denn außer dem Vater war er der einzige Rotschopf im Dorf. Er hatte seinen Kopf ans Fenster gelehnt, doch Anna warf so lange Kieselsteine gegen den Waggon, bis er sich umdrehte und sie sah. Er nickte ihr zu, und zum ersten Mal kam er ihr vor wie ein erwachsener Mann. Beim Verlassen des Bahnhofs summte Anna ein Lied und beschloss, den Rest des freien Nachmittags an der Badestelle zu verbringen.
Auf einmal hörte sie jemand pfeifen. Sie drehte sich um und sah ihren Vater im Schatten des Bahnhofsgebäudes stehen. Er zwinkerte ihr zu. Das war einer der seltenen Momente in ihrem Leben, in dem sie ihren Vater mochte.
Zwei Monate später, im Mai, brannte die Schule an der West Street im alten Teil von Kidron aus. Der Frühling war ungewöhnlich heiß und windig gewesen, und vor dem Brand hatten alle nur noch übers Wetter und die schlimmen Folgen für die Olivenblüte geredet. Vor allem Annas Vater war in großer Sorge, denn der Baumbestand der Kolonie ging ins sechste Jahr, und Percys guter Ruf gründete auf dem Versprechen, dass die ersten Bäume spätestens 1907 reichlich Ernte abwerfen würden – die Oliven brauchten schließlich nur halb so lang bis zur Fruchtreife wie anderswo.
Anna und Violet wuchsen weitgehend unbeaufsichtigt auf. Wenn der Wind wehte, zog es Anna hinaus ins Freie, und so schwänzte sie nachmittags oft
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