Der Olivenhain
waren zurückgezogen, und man konnte die Bäume am Fuße des Hügels gut sehen.
»Sie sind noch erstaunlich grün«, sagte Doktor Hashmi.
»Die da«, sie zeigte zur Mitte des Hains, »sind die ursprünglichen Bäume, die noch mein Vater angepflanzt hat.« Sie nahm eine Olive und saugte daran. Die Salzlake benetzte ihre Zunge. Die Unterhaltung geriet ins Stocken. Eine Zeit lang saßen sie schweigend da und beobachteten, wie der Wind durch die Bäume rauschte und die weiche, silbrig glänzende Unterseite der Blätter aufscheinen ließ.
Doktor Hashmi nahm ein Gummiband zur Hand. »Sie sind das ja sicher gewohnt. Ich musste es vor ein paar Jahren erst lernen, nachdem die Universität mein Budget gekürzt hat. Früher hatte ich immer eine Schwester dabei, die das erledigte.«
Anna schüttelte den Kopf, während sie den Ärmel ihres lilafarbenen Kaftans hochkrempelte, den sie sich zu Erins Abschlussfeier gekauft hatte. Doktor Hashmi zu Ehren hatte sie auch ihren besten Schmuck angelegt. Die Armreifen klimperten, als sie den mit Glöckchen verzierten Ärmel bis zur Schulter hochzog. »Nein, ich bin seit über zehn Jahren nicht mehr beim Arzt gewesen. Das letzte Mal war ich wegen eines Hörgeräts dort, aber das benutze ich nicht mehr, weil ich nicht weiß, wie man die Batterien auswechselt.«
»Aber einen Olivenbaum in weniger als zwanzig Minuten abernten, das können Sie! Absolut erstaunlich.« Er traf die Vene auf Anhieb und schob die Kanüle tief unter die Haut.
Es dauerte fast eine halbe Stunde, bis die sechs bereitgelegten Röhrchen endlich voll waren. Als er fertig war, tätschelte er ihre Hand und entschuldigte die Tortur damit, dass sie sehr dickes Blut habe. Er nötigte sie, sitzen zu bleiben, während er in die Küche ging, um ihr ein Glas Limonade zu holen.
»Was machen Sie nun mit all dem Blut?«, fragte sie, nachdem sie das Glas in einem Zug leer getrunken hatte.
»Ich will wissen, was drin ist«, antwortete Doktor Hashmi lächelnd. »Bald werden all Ihre Geheimnisse ans Licht kommen, und mit ein bisschen Glück finden wir vielleicht endlich das Methusalem-Gen, nach dem wir schon so lange suchen.«
»Wie kommen Sie darauf, dass ich ein Geheimnis habe?« Damit hatte sie nicht gerechnet. Bisher hatte sie gedacht, er suche einfach nach dem Grund ihrer Langlebigkeit und ihrer ungewöhnlich robusten Gesundheit.
»Jeder Mensch hat ein Geheimnis, es liegt in seinem Erbgut verborgen. Wir müssen ihm nur auf die Spur kommen.« Er verstaute die Röhrchen und Instrumente wieder im Koffer und holte ein silbernes Gerät aus seiner Manteltasche. »Deshalb sind die mündlichen Befragungen wichtig, sie führen uns auf die richtige Fährte.«
Plötzlich hatte sie das Bedürfnis, ihre Familie vor Doktor Hashmi zu beschützen. Er war zwar weder unfreundlich, noch wirkte er bedrohlich, im Gegenteil, er war äußerst zuvorkommend. Dennoch stiegen Zweifel in ihr auf, als sie ihn dabei beobachtete, wie er ihr Blut fest in seinem Koffer verschloss. »Wir haben keine Geheimnisse mehr voreinander«, sagte sie.
Er nestelte an dem Gerät herum, sagte laut Tag und Uhrzeit an, dann Annas vollständigen Namen. »Wegen der Sache mit Callies Tochter?«
»Auch deswegen.«
»Für solche Geheimnisse interessiere ich mich nicht. Mich interessiert, was Ihr Blut über Ihre Familie verrät. Erzählen Sie mir etwas über Ihren Hintergrund. Woher kamen Ihre Eltern, wie lebten sie und in welchem Alter sind sie gestorben?«
Sie erwähnte weder die vagen Erinnerungen an eine andere Mutter noch Wealthys Geständnis. Als Wissenschaftler war der Doktor nur an Fakten interessiert, das wusste sie genau. Und sie wusste, dass sie nicht bereit war, sich der Tatsache zu stellen, dass sie nicht die Tochter von Percy und Mims war. Also erzählte sie von ihrer Kindheit, ihrem Ehemann und dessen Familie und spekulierte darüber, warum ihr Bruder Wealthy nie geheiratet hatte. Um den Überblick zu behalten, zeichneten sie gemeinsam einen Stammbaum, doch von den vielen Verzweigungen wurde Anna ganz schwindlig. Schnell holte sie noch mehr Oliven und Cracker.
»Wissen Sie eigentlich, wie einmalig Sie sind?«, fragte er.
Anna zuckte mit den Schultern. »Nicht viele Menschen werden so alt, aber ich schwöre, ich werde diesen Chinesen und die Französin, die mit hundertzweiundzwanzig gestorben ist, übertreffen. In mir stecken noch mindestens zehn Jahre.«
Doktor Hashmi drehte das Blatt mit dem Stammbaum um und zeichnete eine Glockenkurve auf die Rückseite.
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