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Der Olivenhain

Der Olivenhain

Titel: Der Olivenhain Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Courtney Miller Santo
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Dann malte er einen Kreis um die Stelle, an der das rechte Ende der Kurve den unteren Seitenrand berührte. »Da stehen Sie. Nur ein Mensch von sieben Millionen wird älter als einhundertzehn Jahre. Im Augenblick leben vielleicht noch achthundertfünfzig Menschen in Ihrem Alter, aber keiner davon kann sich an den eigenen Namen erinnern oder hat noch genügend Zähne im Mund, um Cracker und Oliven zu knabbern. Jedenfalls keiner von denen, die ich getroffen habe. Soll ich Ihnen etwas sagen? In Ihnen stecken noch mindestens fünfzehn Jahre.«
    Nach dieser zuversichtlichen Einschätzung waren plötzlich alle Vorbehalte gegen ihn und seine Tests wie weggeblasen. Anna nahm seine Hand, drückte sie fest und sagte: »Ich wusste gleich, dass Sie mir sympathisch sind.«

7.
    Wurzelstöcke
    A n na hatte erst seit ihrem hundertsten Geburtstag die fixe Idee, länger als alle anderen Menschen zu leben. Vor diesem Wendepunkt hatte sie sich über ihr Alter nie Gedanken gemacht, und auch die Nostalgie ihrer Altersgenossen war ihr völlig fremd gewesen. Sie hatte immer nur nach vorn geschaut. Doch zu ihrem hundertsten Geburtstag schickte die Lokalpresse einen jungen Reporter für ein Interview nach Hill House. Er war ein kleiner, plumper Bursche mit dicken Sommersprossen im Gesicht.
    »Tun Sie einfach so, als sei ich ein Gast auf Ihrer Geburtstagsfeier«, sagte er und folgte Anna überallhin, so wie Bobo, wenn er Hunger hatte. Meist schwieg er, doch sobald ihm eine der Keller-Frauen über den Weg lief, bestürmte er sie mit Fragen. Allerdings machte er sich keine Notizen, was Anna nicht müde wurde zu betonen, als der Artikel erschien.
    Als sich der Nachmittag seinem Ende zuneigte, setzte er sich mit Anna an einen Tisch und aß ein Stück Kuchen. »So alt sehen Sie gar nicht aus«, sagte er. »Ich hatte eine halb blinde, taube alte Frau erwartet, die von einem Pfleger versorgt und im Rollstuhl herumgefahren wird.«
    Erst zehn Jahre später, um ihren einhundertzehnten Geburtstag herum, wurden ihre Augen langsam schlechter. Damals, als sie mit dem jungen Mann zwei Stück Kuchen aß, gab sie keinen Deut auf sein Gerede. Stattdessen erzählte sie ihm vom Umzug des Dorfes und wie sie unter den Fundamenten der Häuser auf Schatzsuche gegangen war. Sie breitete die Fundstücke vor ihm aus: das Knochenteil vom Metzger, drei Perlenknöpfe von der Schneiderei und eine kleine Taschenuhr, die sie an der Stelle des ehemaligen Bankgebäudes gefunden hatte. Erin, die gerade zwölf Jahre alt geworden war und sich brennend für die Geschichten der Erwachsenen interessierte, lauschte gebannter als der Reporter. Zum Abschied nahm sich der Bursche noch die Freiheit heraus, sie zu umarmen (die jungen Leute hatten einfach keine Manieren) und zu beteuern, wie froh er war, dass sie ihm das alles noch erzählt hatte, bevor sie … Doch an der Stelle schnitt sie ihm das Wort ab.
    »Bevor ich was? Sterbe?« Anna überragte ihn um mindestens zehn Zentimeter und sah drohend auf ihn hinab.
    Mit hochrotem Kopf stammelte er eine Entschuldigung, wandte sich zur Tür und verließ eilig das Haus. Doch ihre Drohgebärde schien keinen bleibenden Eindruck hinterlassen zu haben. In seinem Artikel stand später nichts von all dem, stattdessen berichtete er von einer Anna, wie er sie sich ausgemalt hatte. Er beschrieb Anna als letzte noch lebende Zeitzeugin der Gründungsphase von Kidron und als greise, gebrechliche Frau mit runzliger Haut.
    »Wenn man das liest«, sagte sie zu Bets, »könnte man meinen, ich erlebe das nächste Jahr nicht mehr.« Der Artikel schlug einen tragischen Ton an, obwohl der Autor anmerkte, dass Anna noch rüstig war. Dennoch zitierte er hinterher eine Altenpflegerin mit dem Hinweis, dass Hochbetagte oft unerwartet schnell abbauten.
    Diese Pflegerin arbeitete im Seniorenheim Golden Sunsets, in dem auch Bets’ Ehemann Frank lebte. Nach dem Artikel würdigte Anna sie keines Blickes mehr. Der Reporter wechselte später zu einem größeren Blatt in Fresno, doch zu Weihnachten erhielt er fortan eine Karte von Anna, die mit »immer noch hier« unterschrieben war. Diese blöde Geschichte hatte ihr klargemacht, dass im Grunde alle glaubten, sie würde bald das Zeitliche segnen.
    Die Menschen um Anna herum fielen im Krieg, verunglückten bei Unfällen oder wurden von einer schlimmen Krankheit dahingerafft. Keiner war je aufgrund seines hohen Alters gestorben, höchstens wegen altersbedingten Krankheiten. Altersbedingt – was für ein Unsinn! Sie fing an,

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