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Der Olivenhain

Der Olivenhain

Titel: Der Olivenhain Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Courtney Miller Santo
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die Schule, um zur kleinen Badestelle zu gehen, die sie und die Lindsey-Jungs gleich im zweiten Jahr in Kidron entdeckt hatten. Am Rande des Grundstücks von Annas Familie gabelte sich ein Bach und bahnte sich seinen Weg hinein ins Farmland der Lindseys, wo sich im Frühjahr eine große Senke im Boden mit dem Schmelzwasser von Mount Shasta füllte.
    Wenn ihr Vater sie beim Schwänzen erwischte, schickte er sie ohne Abendessen ins Bett. Doch in diesem Frühjahr nahmen die Eltern kaum Notiz von den Briefen, die die Lehrerin, Miss Dupont, schickte.
    Violet wollte immer gelobt werden und war schadenfroh, wenn die große Schwester bestraft wurde. Anna wusste, dass es Violet sehr ärgerte, wenn man ihr sagte, sie solle sich lieber um ihren eigenen Kram kümmern, anstatt ihre Schwester zu verpetzen.
    Sie besuchten die Public School Nr. 1 in einem dreistöckigen Gebäude mit Schindeldach und einem altmodischen Glockenturm im Zentrum von Kidron. Da die meisten weißen Familien im Westen kaum länger als eine Generation ansässig waren, ergab sich die gesellschaftliche Rangordnung aus der relativen Nähe zum Dorfmittelpunkt. Dort lebten die, die als Erste gekommen waren, die hoch angesehenen Vordenker und Pioniere. Wer hingegen in die Public School Nr. 5 ging, galt als Sprössling einer einfallslosen Sippe, die der Herde hinterhergelaufen war. Die, die wirklich Geld hatten, schickten ihre Kinder allerdings gleich auf renommierte Internate im Osten des Landes.
    Im Mai 1907 war absehbar, dass die Ernte nicht den erhofften Ertrag bringen würde. Die heftigen Winde im Frühjahr verhinderten eine erfolgreiche Bestäubung der Bäume, denn sie trieben die Pollen nordwärts in die Talsenke rund um Mount Lassen. Viele Familien fürchteten, den Kredit nicht abbezahlen zu können, den sie erhalten hatten. Einzig die Stadtverwaltung verfügte dank üppiger Steuern über ausreichende finanzielle Mittel, und der Bürgermeister George Kidron war fest entschlossen, den Ort für das zwanzigste Jahrhundert zu rüsten. In der Woche vor dem Brand begann man damit, die alten Straßenlaternen durch elektrische Glühlampen zu ersetzen, außerdem wurden dreißig Gallonen rote Außenfarbe gekauft, die aufgrund ihres Thermitanteils mindestens dreißig Jahre halten sollte.
    Als das Feuer ausbrach, war das Schulgebäude erst zur Hälfte rot gestrichen. Sechsundzwanzig der zweiundvierzig Kinder kamen in den Flammen um, darunter auch Violet. Jahrzehnte später, als Anna bereits über achtzig war, kam ein Wissenschaftler nach Hill House, um sie über den Vorfall damals zu befragen. Obwohl Anna keine Augenzeugin war, konnte sie sich doch gut erinnern, was ihre Schulkameraden von dem merkwürdigen Feuer berichtet hatten. Es flammte immer wieder auf, knallte in unzähligen Explosionen, und alle paar Sekunden taten sich neue Brandherde auf. Nach Abschluss der Untersuchung schickte der Wissenschaftler Anna eine Kopie des Artikels, in dem er erklärte, dass die Ursache des verheerenden Brandes die rote Farbe mit dem Thermit war, welches im Zweiten Weltkrieg zur Zündung von Bomben eingesetzt wurde.
    Für die Lehrerin, Miss Dupont, war es die erste Anstellung nach dem Studium gewesen, und sie überlebte den Brand nur knapp. Sie trug schlimme Brandnarben am linken Arm und am Hals davon. Nach der Beisetzung der Kinder verließ sie Kidron, blieb jedoch im Leben der Familien, die ihre Kinder verloren hatten, immer präsent. Wenn sich der Jahrestag des Brandes näherte, schickte sie den Angehörigen der Opfer Briefe, in denen sie zuversichtlich in die Zukunft blickte und beschrieb, was das jeweilige Kind im vergangenen Jahr alles erreicht hätte, wenn es noch lebte.
    Als sich das Feuer zum zweiten Mal jährte, schrieb sie Louisa Farris’ Eltern, ihre Tochter habe den Lesewettbewerb der Schule gewonnen, und sie gehe davon aus, dass Louisa auch im Landeswettbewerb sehr gut abschneiden würde. Am zehnten Jahrestag bekamen die Eltern von George Lee einen Brief, in dem Miss Dupont ihr Bedauern darüber ausdrückte, dass George wegen seiner Sehschwäche nicht zur Armee durfte, sie aber sehr stolz auf ihn sei, weil er so eifrig Geld für Kriegsanleihen sammelte. Zum vierzehnten Jahrestag berichtete sie Emily Rose Burnans Eltern, wie sehr sie sich freute, dass aus Rose eine tüchtige Krankenschwester geworden war, die erst vor Kurzem vierzehn Patienten vor dem furchtbaren Grippevirus gerettet hatte. Am fünfunddreißigsten Jahrestag erfuhr die Schwester von John Pickling,

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