Der Omega-Punkt: Roman (German Edition)
hinaus, und bald umgab uns überall die Nacht.
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In Luft überzugehen, das war anscheinend ihre Bestimmung, dafür war sie geschaffen, zwei volle Tage kein Wort, kein Zeichen. War sie jenseits der Mutmaßungsgrenze geraten, oder waren wir bereit, uns vorzustellen, was geschehen war? Ich versuchte, nicht über die Geografie hinauszudenken, jeder Moment war bestimmt durch die Ödnis ringsum. Aber auch die Fantasie war eine Kraft der Natur, unkontrollierbar. Tiere, dachte ich, und was sie mit dem Körper in der Wildnis anstellen, im Geist, es gibt keinen sicheren Ort.
Am Vortag, als alle Anrufe getätigt und alle Stellen benachrichtigt waren, hatte ich draußen gestanden und ein Auto gesehen, das am Horizont langsam, schwebend in Bewegung kam, von Staub und Flimmerlicht gefurcht, eine lange Einstellung in einem Film, ein Augenblick allmählicher Erwartung.
Es war der hiesige Sheriff, breites rotes Gesicht, gestutzter Bart. Ein Helikopter sei in der Luft, sagte er, Spurensucher seien am Boden unterwegs. Als Erstes wollte er wissen, ob Jessie in letzter Zeit Abweichungen von ihren normalen Verhaltensmustern gezeigt habe. Nur eine Abweichung, sagte ich zu ihm, nämlich dass sie jetzt vermisst wird.
Ich zeigte ihm das Haus. Er schien sich nach Spuren eines Kampfes umzuschauen. Er untersuchte Jessies Zimmer und sprach kurz mit Elster, der die ganze Zeit auf dem Sofa sitzen blieb, kaum fähig, sich zu bewegen, entweder wegen seiner Tabletten oder aus Schlafmangel. Er sagte fast nichts und reagierte verwirrt auf die Anwesenheit eines Uniformierten im Haus, eines großen Mannes, der das Zimmer schrumpfen ließ, mit Marke auf der Brust und Waffe am Gürtel.
Draußen sagte der Sheriff zu mir, zum gegenwärtigen Zeitpunkt gebe es keine Hinweise auf ein zu untersuchendes Verbrechen. Die übliche Vorgehensweise für die kommende Zeit bestehe darin, sich mit den zuständigen Stellen anderer Countys abzustimmen, um Gästelisten von Motels, Telefonlisten, Autovermietungen, Reservierungen bei Fluggesellschaften und andere Dinge zu überprüfen.
Ich erwähnte den Hausbetreuer. Er sagte, er kenne den Mann schon seit dreißig Jahren. Der sei Naturforscher aus Begeisterung, ein Experte für ortstypische Pflanzen und Fossilien. Sie seien Nachbarn, sagte er, dann sah er mich an und listete ein paar Kategorien verzweifelter Menschen auf, am Ende diejenigen, die in die Wüste kommen, um sich umzubringen.
Elster rang sich endlich durch und machte den Anruf, den bei Jessies Mutter. Ich testete, an welcher Stelle er das am besten tun sollte, und der beste Empfang war draußen, spätnachmittags, den Blick vom Haus abgewandt. Er sprach Russisch, mit eingesacktem Körper, es fiel ihm schwer, die Stimme über ein Wispern hinaus zu erheben. Es gab lange Pausen. Er hörte zu, sagte wieder etwas, jedes Wort ein Flehen, die Reaktion eines beschuldigten Mannes, nachlässig, dumm, schuldig. Ich stand in der Nähe, verstand, dass das eine Mal, als er in ein ungeschicktes Englisch verfiel, ein hilfloses Nachahmen ihres Englisch darstellte, ein Ausdruck geteilten Schmerzes und elterlicher Identität. Ein Helikopter tauchte im Osten am blassen Himmel auf, und ich beobachtete, wie Elster den Rücken straffte, langsam, mit erhobenem Kopf, die freie Hand schützend gegen die Sonne gehalten.
Später fragte ich ihn, ob er getan hätte, was ich ihm gesagt hatte. Er wandte den Blick ab und ging in Richtung Schlafzimmer. Ich hatte ihm gesagt, er solle Jessies Freund erwähnen, den Mann, mit dem sie ausgegangen war. Hatte ihre Mutter sie nicht aus diesem Grund hergeschickt? Ich stand an der Tür zu seinem Zimmer. Er saß auf dem Bett, die Hand zu einer Geste erhoben, die ich nicht entschlüsseln konnte. Was soll’s oder was hat das damit zu tun oder lasst mich in Ruhe.
Er wollte das reine Rätsel. Vielleicht war das leichter für ihn, irgendetwas jenseits der klammen Reichweite menschlicher Motive. Ich versuchte, seine Gedanken zu denken. Das Rätsel hatte seine Wahrheit, umso tiefer, als es gestaltlos war, und seine flüchtige Bedeutung ersparte Elster alle möglichen expliziten Details, die einem ansonsten einfallen würden.
Aber das waren nicht seine Gedanken. Ich wusste nicht, was seine Gedanken waren. Ich kannte meine eigenen ja kaum. Ich konnte um die Tatsache ihres Verschwindens herumdenken. Aber im Herzen, im Augenblick selbst, die physikalische Crux des Ganzen: nur ein Loch in der Luft.
Ich sagte: »Wollen Sie, dass ich anrufe?«
»Ergibt doch
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