Der Omega-Punkt: Roman (German Edition)
Behandlung? Nahm sie Antidepressiva? Ihr Fluglinien-Kulturbeutel stand immer noch in dem Bad, das wir geteilt hatten. Ich fand nichts, sprach mit ihrem Vater, rief ihre Mutter an, erfuhr von beiden nichts, das ein Abdriften in diese Richtung hätte anzeigen können.
Ich stemmte die Hanteln immer abwechselnd, dann beide gleichzeitig, zwanzig Mal so, zehn Mal so, stemmte und zählte, immer weiter.
Ich führte ihn hinaus auf die Terrasse und setzte ihn auf einen Stuhl. Er trug Pyjama und alte Turnschuhe, mit offenen Schnürsenkeln, und seine Augen schienen einem einzigen Gedanken nachzuspüren. Darauf richtete er jetzt seinen Blick, nicht auf Objekte, sondern auf Gedanken. Ich stand mit einer Schere und einem Kamm hinter ihm und sagte ihm, es sei Zeit für einen Haarschnitt.
Er drehte den Kopf ein wenig, nachfragend, aber ich brachte ihn wieder in Position und begann, seine Koteletten zu stutzen. Ich redete beim Arbeiten. Ich redete in einer Art Audiostream, während ich mich durch die verfitzten Strähnen auf der einen Seite seines Kopfes hindurchkämmte und schnitt. Ich sagte, das sei etwas anderes als Rasieren. Der Tag würde kommen, an dem er sich rasieren wolle, und das würde er dann selbst tun müssen, aber sein Haupthaar sei eine Frage der Haltung, seiner wie meiner. Ich sagte viele hohle Dinge an diesem Morgen, sachlich, halb überzeugt. Ich entfernte das wurmzerfressene Gummiband aus seinem geflochtenen Haar im Nacken und versuchte, zu kämmen und zu stutzen. Ich wechselte ständig zu anderen Bereichen auf seinem Kopf. Er sprach von Jessies Mutter, ihrem Gesicht und ihren Augen, seiner Bewunderung, und seine Stimme versickerte, leise und heiser. Ich fühlte mich veranlasst, die Haare in seinen Ohren zu stutzen, lange weiße Fasern, die sich aus dem Dunkeln herauskringelten. Ich versuchte, jeden Zentimeter verfilzter Vegetation zu entwirren, bevor ich schnitt. Er sprach von seinen Söhnen. Das wissen Sie nicht, sagte er. Ich habe zwei Söhne aus erster Ehe. Ihre Mutter war Paläontologin. Dann sagte er es noch mal. Ihre Mutter war Paläontologin. Er erinnerte sich an sie, sah sie in dem Wort. Sie liebte diesen Ort, und die Jungs genauso. Ich nicht, sagte er. Aber das hat sich mit den Jahren geändert. Irgendwann habe er sich auf seine Zeit hier gefreut, sagte er, und dann sei die Ehe auseinandergegangen, die Jungs seien junge Männer geworden, und mehr konnte er nicht sagen.
Ich trat zur Seite, den Kopf schräg gelegt, und musterte mein Handwerk. Ich hatte vergessen, ein Handtuch um seinen Oberkörper zu legen, und überall lagen Haarschnipsel, Haare auf seinem Gesicht, seinem Nacken, seinem Schoß und seinen Schultern, Haare in seinem Pyjama. Ich sagte nichts über die Söhne. Ich schnitt einfach weiter. Wenn ich ihn abduschen musste, würde ich ihn eben abduschen. Ich würde seinen Kopf in die Küchenspüle stecken und ihm die Haare waschen. Ich würde den sauren Geruch abschrubben, den er an sich hatte. Ich sagte ihm, ich sei fast fertig, aber ich war noch gar nicht fast fertig. Dann wurde mir klar, dass ich noch etwas anderes vergessen hatte, irgendeine Art Bürste, um das ganze Haar wegzufegen. Aber ich ging nicht hinein, um eine zu suchen. Ich schnitt einfach weiter, kämmte aus und schnitt.
Der Anruf kam früh. Suchtrupps hatten ein Messer in einer tiefen Schlucht gefunden, nicht weit von einem Stück Land, das Abwurfzone genannt wurde, Zutritt verboten, einem früheren Bombenabwurf-Testgelände, das voller unexplodierter Patronen lag. Sie hatten eine Sicherheitsabsperrung um den Gegenstand gezogen und weiteten die Suche aus. Der Ranger achtete darauf, das Messer nicht als Waffe zu bezeichnen. Könnte einem Wanderer gehören oder einem Biker, zu allen möglichen Zwecken. Er nannte die ungefähre Lage eines Sandwegs, der zu der Fundstelle führte, und als wir das Gespräch beendet hatten, holte ich Elsters Landkarte und hatte die Abwurfzone schnell entdeckt, eine große Fläche mit geometrischem Muster und gerade abgeschnittenen Kanten. Richtung Westen waren dünne Wellenlinien – Canyons, trockene Flussbetten und Bergbaustraßen.
Elster schlief in seinem Zimmer, und ich beugte mich über sein Lager und lauschte seinem Atem. Ich weiß nicht, warum ich dabei die Augen schloss. Dann sah ich in seinem Arzneischränkchen nach, ob die Anzahl von Pillen und Kapseln in diversen Flaschen sich etwa merklich vermindert hatte. Ich machte Kaffee, deckte den Tisch für ihn und hinterließ ihm einen Zettel, dass
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