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Der Opal

Der Opal

Titel: Der Opal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcus Hammerschmitt
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schön gewesen wie diese Frau, trotz der widerwärtigen Bälle. Das Licht, das sie umgab und von nirgendwoher zu kommen schien, ließ ihren Leib, der ohnehin bleich sein musste, noch weißer erscheinen, fast durchsichtig. Die Frau trug ihre Haare kurz, sie umgaben den Kopf wie ein weicher Helm. Latil wollte sofort ihre Haare berühren, um zu wissen, wie sie sich anfühlten.
    »Kea«, sagte Haku, und als Latil »Ich weiß« antworten wollte, fing der Gesang an. Kea hob wie in Trance die Arme und fing an zu singen. Latil kannte diese Art von Gesang schon. Es war die abgeschwächte Form dessen, was sie beim Einlaufen der Okigbo in den Hafen gehört hatte, Liebesgesang für metallisch-elektrische Wale. Durch die Menge ging eine Welle, die erst mit Verzögerung beim ersten Kreis um Kea ankam. Latil konnte die Bewegung hinter ihrem Rücken spüren, sie bekam eine Gänsehaut. Ihr war nicht heilig zumute. Sie kam nicht von hier. Aber abtun konnte sie den Opal nicht mehr. Da war die Okigbo gewesen. Das Transportsystem der Dolza. Nun diese Frau und ihr Gesang. Latil machte sich auf eine langwierige Zeremonie gefasst und sie fragte sich, ob sie den Mut aufbringen würde, sich einfach auf den grauen Boden zu setzen, der im auffälligen Gegensatz zu der feierlichen Atmosphäre sehr gewöhnlich aussah, wie viele der Böden, die Latil in Raumhäfen schon gesehen hatte. Die Zuschauer des ersten Kreises hatten nur Augen für die Sängerin. Manche von ihnen trugen sowohl kleine Geräte, mit denen sie die Vorführung aufzuzeichnen schienen, als auch eine Anzahl der braunen Bälle an ihren Anzügen. Viele der anderen Zuschauer hatten auch Bälle, aber nie mehr als zwei. Nach einer knappen Viertelstunde brach der Gesang mitten in einer einfachen Kadenz ab, genauso unvermittelt, wie er angefangen hatte. Das Licht ging an. Latil sah nach oben. Der Dom war absurd groß. Der Mond musste beinahe hohl sein. Die Zuschauer verhielten sich, als habe man ein unsichtbares Band zwischen ihnen und der Sängerin zerschnitten. Die Menge wurde mit einem Schlag amorph, zerstreute sich in kleinen Gruppen und verteilte sich dann weitläufig in der Halle. Kea kam ohne das geringste Zögern auf Latil zu. »Ich habe schon viel von dir gehört«, sagte sie.
    Latil fand diese Begrüßung dumm. Sie antwortete: »Das geht hier vielen so.«
    Kea lächelte.
    Bevor sie etwas erwidern konnte, fragte Latil: »Was haben eigentlich diese ekelhaften Bälle für eine Bedeutung, die immer an euch hochklettern? Viele hier tragen sie. Warum?«
    Kea sah Haku an, der ihren Blick fest erwiderte.
    »Diese ›Bälle‹ sind unsere Begleiter.« Als Latil nur blinzelte, fügte sie hinzu: »Sie wachsen auf Keik.«
    Latil sah ihr in die Augen. Ihre Augen waren nicht gut. Latil war nicht gleich klar, warum. Um eine gleichmäßig blaugraue Iris zog sich ein schmaler hellblauer Ring, der Keas Blick etwas Stechendes gab. Kalt, dachte Latil. Kalt wie die Luft des Opals.
    Einer der Männer, die mit ihren Geräten Keas Gesang aufgezeichnet hatten, bestäubte sie mit einer Art Mehl, nachdem er die Begleiter von ihrem Körper abgepflückt und in einen unangenehm aussehenden Korb gelegt hatte. Wo das Mehl an ihrer nackten Haut haften blieb, entwickelten sich kleine Keimlinge, die in Sekundenschnelle zu ganzen Blättern heranwuchsen, sich entrollten, ausbreiteten und schließlich Keas ganzen Körper bedeckten, von ihrem Hals und ihrem Gesicht abgesehen. Es war ein eigenartiges Schweigen in der Halle. Latil konnte dieses Schweigen hören, selbst während sie fasziniert den Blättern zusah, die sich auf Keas Haut entrollten. Die Menge wartete. Latil riss eines der Blätter von Keas Haut und betrachtete es genau. Sie hatte noch nicht viele echte Pflanzenblätter gesehen, aber dies war keins. Das Blatt schien zu leben. Jedenfalls pulsierte es schwach, gerade an der unteren Grenze ihrer Wahrnehmungsfähigkeit. Am stärksten pulsierte der Stiel. Plötzlich begann das Blatt zu flattern, wand sich aus ihren Fingern und fiel torkelnd und taumelnd zu Boden. Latil hatte den bestimmten Eindruck, dass es zu den anderen Blättern zurückwollte, aber nicht konnte. Als das Blatt auf dem Boden angekommen war, erlöste sie es mit ihrem rechten Stiefel. Schmetterlingsmutanten. Widerlich.
    »Willst du mich ausziehen?«, fragte Kea belustigt, aber Latils Aufmerksamkeit war schon woanders. Sie nahm eine Bewegung am oberen Rand ihres Blickfeldes wahr und erschrak beim Aufsehen fürchterlich. Die Decke des Doms fiel

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