Der Opal
wie die anderen auch.
Am zweiten Tag liefen sie einen breiten Kanal entlang, der die ganze Zentralhöhlung des Schiffes der Länge nach durchschnitt, ein extrem gleichmäßiger und immer gleich breiter Strom aus Silber, der sich bewegungslos durch einen Alptraum aus verfestigtem Schlamm wälzte. Von dieser Zentralachse führten Straßen zu den Siedlungen, von denen sie schon einige gesehen hatte, jede Straßenmündung der Eintritt in ein unübersichtliches Labyrinth aus anderen Straßen, Häusern, Plätzen und Terrassen. Die Plattformen schwebten über den Köpfen der Truppe, die in Fünfergruppen nach den verhassten schwarzen Kugeln suchte. Latil fragte sich, wie es sich wohl angefühlt hatte, hier zu leben. Waren den Gästen Kinder erlaubt worden? Wie hatten sie sich organisiert? Gesellschaft, Arbeit, Handel und Wandel? Möglicherweise nichts von alledem. Möglicherweise war diese Stadt nichts weiter als eine gigantische Gummizelle gewesen, ein Dämmerreich für lebende Tote, die sich nur deswegen nicht in Massen selbst umgebracht hatten, weil sie sich schon gar nicht mehr an ihre Herkunft erinnern konnten. Vielleicht hatten sie sich in Massen selbst umgebracht. Vielleicht waren sie in Massen von der ST umgebracht worden, Neuankömmlinge rein, Altinsassen raus. Wie viele Gäste sollte die ST im Normalbetrieb gehabt haben? Etwa Zweihunderttausend? Das hatte ihr Haku erzählt, vor ewigen Zeiten. Die Stadt fasste jedoch viel mehr als zweihunderttausend Bewohner, selbst wenn man das braune Füllmaterial mit einrechnete. Grob überschlagen gab es hier vielleicht Platz für eine Million Menschen. Möglicherweise hatte die ST ganze Stadtteile unbewohnt gelassen und die Bevölkerung durch geeignete Maßnahmen, also durch Mord, künstlich bei zweihunderttausend stabilisiert. Möglicherweise. Vielleicht wurde ihr Denken aber auch langsam durch die vielen Skelette getrübt, die hier nach Art des Hauses in schwarze Kugeln eingesperrt waren, damit sie kein Eigenleben gewinnen und durch die absurden Straßen dieser absurden Stadt tanzen konnten.
Latil bekam sie mehr als satt, die Skelette, genauso wie alles andere hier. Kurz bevor sie einen Anfall bekam, legte ihr Eytarri, der immer an ihrer Seite war, die Hand auf die Schulter und sagte: »Atmen, Latil.« Erst da bemerkte Latil, dass sie zitterte, und das Erschreckende daran war, dass sie wohl schon eine ganze Weile gezittert hatte, ohne dass es ihr aufgefallen war.
Eytarri war nicht so wie früher. Er machte keine Witze, er verhielt sich nicht wie ein Autist, er stieß keine spitzen Schreie mehr aus. Mehrfach fragte er sie, ob sie sich an eine Sache mit einem Vertrag erinnern könne, es gebe da etwas sehr Wichtiges, aber er wisse nicht mehr genau, was es sei. Ob sie ihm nicht dabei helfen könne? Sie log ihm blank ins Gesicht. Der Vertrag zählte hier nicht. Es zählte auch nicht, dass er nicht der ›wahre‹ Eytarri war. Sie durfte nicht an diese unangenehme Wahrheit denken, denn wenn sie es tat, wurde ihr schwindlig, und sie wollte sich die Stabwaffe unters Kinn halten und abdrücken. Fleischpuppe hin oder her, Eytarri war der einzige vernünftige Mensch hier, sie eingeschlossen. Unter Bedingungen wie diesen konnte man sich seine Freunde nicht aussuchen.
Am Morgen des dritten Tages hatte auch Haku von den Skeletten genug. Kurz bevor die Truppe wieder ihre alte Marschordnung einnahm, griff die ST zum ersten Mal an. Sie und Haku waren gleichstarke Partner in einem mörderischen Patt, aber Latil hatte sich schon öfter gefragt, warum sie die Tatsache nicht ausnutzte, dass Haku die Enzyme vorerst nicht entfesseln konnte, wenn er sich und seine Leute nicht selbst gefährden wollte. Sie wusste nicht, wie der Soldat hieß. Sie hatte sich nur wenige Gesichter einprägen können, die Reflexe auf den Visieren machten es schwer, klare Gesichtszüge zu erkennen, und bei dem dämmrigen Licht und dem allgemeinen Erschöpfungszustand, dem sie selbst und alle anderen unterworfen waren, war es doppelt schwierig, die Leute auseinander zu halten. Außerdem wurde wenig gesprochen und die Gespräche blieben durchweg sehr kurz. Latil konnte sich überhaupt nur an die Namen der nächsten Vertrauten Hakus erinnern, mit denen sie an sinnlosen Lagebesprechungen teilgenommen hatte; meistens ohne etwas zu sagen. Außer Domale Make und Tendrak waren da noch Tepo und Amkata, zwei untersetzte Umbriel-Taan, die bei diesen Besprechungen auch nicht viel gesagt hatten, eigentlich das Klügste, was
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